Wahres und falsches Ich

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Was macht einen spirituellen Menschen aus? Ich denke vor allem, dass er offen ist. Ohne dieses: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ ( Matth. 18,3 ), wird es schwierig dauerhafte und verlässliche Führung auf dem inneren Pfad und  ebenso die richtige Perspektive zu den Erscheinungen und dem Stellenwert der materiellen Welt zu bekommen.

Nun sind wir alle nicht nur spirituelle, ewige Wesen, wie wir gelernt oder erfahren haben, wir sind auch mit unserer Inkarnation Kinder dieser Zeit, das heißt wir sind auf sehr sublime, unbewusste Weise von dem heute vorrangig herrschenden, dynamischen sich entwickelnden Zeitgeist geprägt. Und ein Phänomen dieses Zeitgeistes ist es heute, dass wir scheinbar auf sehr offene Weise gelernt haben miteinander zu kommunizieren. Nicht nur, dass wir ununterbrochen miteinander zu palavern scheinen, ob nun im realen Leben mit unseren Freunden und Angehörigen oder virtuell über Handy oder andere Medien, es gehört auch zum hippen Lebensstil dazu, dass man in den diversen sozialen Medien permanent alles mögliche Private seinem imaginären Freundeskreis mitteilt. „ Schaut alle her, das bin ich!“ All dies könnte den Eindruck vermitteln als wäre es ein Zeichen dieser grundlegenden Offenheit, die so elementar für das innere Wachstum ist.

Schaut man sich diese Art und Weise der Kommunikation aber näher an, dann bemerkt man sehr schnell, dass es sich dabei nicht wirklich um eine offene Kommunikation handelt, im Gegenteil. Anstatt mit einem lebendigen Austausch vom Ich zum Du, ähnelt es mehr einer narzisstischen Selbstbespiegelung, bei der die virtuelle Plattform die Spiegelfunktion übernimmt und ich mich selbst dort immer genau so hinein projizieren kann, wie ich mich am liebsten sehe. Wehe nur, wenn dieser Spiegel nicht nur mit Smilies und Likes reagiert, sondern womöglich anfängt kritische Fragen oder Stellungnahmen zurück zu werfen, die über den imaginären Rahmen, auf den man sich im kollektiven Bewusstseinsfeld, wenn auch jenseits der bewussten Wahrnehmung, geeinigt hat, hinausgehen. Dann wird man schnell zum Spielverderber und wird mit Kommunikationsverweigerung bestraft. Hinterfragen und nachhaken verboten!

Was verbirgt sich hinter dieser so weit verbreiteten Haltung?

Bei näherer Betrachtung das genau Gegenteil von Offenheit. Wenn der eigene Raum nur noch aus Spiegeln besteht und nicht mehr aus Fenstern, die die Außenwelt herein lassen, dann kann man nicht mehr erkennen, was jenseits der eng gezogenen Grenzen der eigenen Komfortzone erscheint. Dadurch jedoch verliert man immer mehr das Gespür für sein Selbst, das was uns zu einer Individualität macht, denn in diesem imaginären Spiegel sehe ich nur ein Zerrbild meiner Selbst, während alle die echten Dus jenseits meiner offenen Fenster mir das Bild von mir zurückspiegeln würden, das ich wirklich bin.

Das ängstliche Verbleiben in den engen Grenzen der eigenen Komfortzone ist das uneingestandene Geständnis, das ich mir selbst nicht traue, mich selbst nicht wirklich kenne.

Und deshalb muss ich ein virtuelles Bild von mit kreieren mit all den Dingen, die ich liebe und verachte, meinen Likes und Dislikes, mit den Freunden mit denen ich mich umgebe, mit dem Stil, mit dem ich mich kleide und meine Wohnung ausstatte, mit all den Trends und Moden, mit denen ich mich bewusst oder unbewusst identifiziere, und nicht zuletzt meinem Beruf und meinem Ansehen in der Welt, dies alles soll mir selbst suggerieren, dass hinter all diesen Fassaden „Ich“ stehe, mein Selbst.

Gleicht dieses Bild nicht jenem berühmten Kartenhaus, das beim ersten heftigeren Windstoß in sich zusammenfällt?

All dies sind Zeichen einer nicht vorhandenen eigenen Persönlichkeit, einer Abwesenheit von genuiner Autonomie, die sich auf dem inneren Pfad eigentlich entwickeln sollte und notwendige Voraussetzung für jeden geistigen Fortschritt ist. Und daher ist heute ein eigener Standpunkt so selten geworden und wenn es heißt aus der Grauzone des kollektiven Zeitgeistes heraus zu treten und Farbe zu bekennen, dann begegnet einem nur allzu oft das Schweigen im Walde. Können wir davon ausgehen, dass es anders wird, wenn es einmal wirklich zählt, wenn es einmal an die Grundlagen unserer Bürgerrechte, ja unseres Menschseins und unserer Menschenwürde geht? Wohl kaum!

Woher nur kommt dieser fatale Hang in den engen Grenzen der eigenen Komfortzone, zu verbleiben selbst bei den Suchenden unter uns, ein Bereich, der manchmal dem meines Nächsten gleicht, wie ein Ei dem anderen und die manchmal so eng sind, dass sie mehr einem Gefängnis gleichen als dem abgesteckten Rahmen des eigenen persönlichen Selbstausdrucks?

Und ist nicht das das genialste Gefängnis, von dem seine Insassen nicht mal merken, dass es sie einschließt?

Gleichen wir nicht jenem Vogel, der sich nach so langer Zeit im Käfig so sehr an seine Gefangenschaft gewöhnt hat, dass er vergessen hat, dass die Türe die ganze Zeit offen stand und er Flügel hat mit denen er in die Freiheit fliegen könnte?

Und solange unser Vogel nicht das Angebot annimmt und fliegt, solange wird jeder Vogel draußen, mit einer einfachen Frage: „Warum willst du in deinem Gefängnis bleiben“ zum lästigen Störenfried, ja zum potentiellen Feind.

Zweifelnde Gedanken beginnen im Gehirn zu kreisen: „ Vielleicht kann ich gar nicht fliegen?“ oder „Wer sorgt dann in der Freiheit für mich?“ ja vielleicht sogar „Ein Vogel wie ich ist doch gar nicht zum Fliegen gemacht“ oder „Freiheit, gibt es die überhaupt?“.

Wenn das unser Selbstbild und die Vorstellung von der Welt jenseits unserer goldenen Gitterstäbe ist, dann ist keine wirkliche Kommunikation und Begegnung vom Ich zum Du möglich, dann wird jedes Bemühen um mehr Authentizität und Ehrlichkeit als Angriff und Grenzüberschreitung erfahren.

Dann bleibt die Begegnung von Menschen in Tabugrenzen und lebensfeindlichen Konventionen stecken. Selbst unter sich scheinbar nahe stehenden Menschen, wie Sexualpartnern oder Kinder und Eltern.

Ein wirklich von Herzen offener Mensch ist hingegen wie ein Vogel der fliegt und den Flug aus vollem Herzen genießt.

Ein wirklich offener Mensch ist wie der heilige Narr in unseren Märchen und Sagen. Wir alle tragen ihn verborgen in unserer Seele.

Wie können wir ihn aber erwecken?

Durch einfache Ehrlichkeit. Indem wir aufhören weiterhin Entschuldigungen und Rationalisierungen für unser Wegducken und Verstecken zu finden, warum wir den diversen Anrufungen und Einladungen des Lebens nicht folgen, die schon an uns ergangen sind, unser imaginäres Gefängnis endlich zu verlassen. Eine heilige Instanz in uns weiß sehr genau, wo wir echt sind und wo wir so tun als ob und das falsche Spiel der Ego-Persönlichkeit und der schönen Welt des Scheins mitspielen, weil sich offenbar alle irgendwie und irgendwann dazu verabredet haben. Öffnen wir doch die Augen dafür was jedes Kind sehen kann: Der Kaiser hat keine neuen Kleider, er ist nackt!

Und wenn wir dann in den Spiegel unseres wahren Selbst schauen, weil es vielleicht alles ist, was uns geblieben ist, dann könnte es sein, dass wir überrascht sind von der Schönheit und intensiven Wirklichkeit, die uns da entgegen strahlt.

 

Yehudi 2013