Das I Ging – die Heilige Schrift Chinas
Das I Ging darf aus gutem Grund als die Heilige Schrift Chinas bezeichnet werden, so wie die Bhagavad Gita die Heilige Schrift der Inder und die Bibel entsprechend für Christen und Juden ist. Seine Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Geschichte, niedergeschrieben wurde es aber dann wohl vor ca. 3000 Jahren. Man sagt, dass alle großen Weisheitslehrer der Chinesen wie Dschuang Tsi, Kungfutse und Lao Tse, die bis auf den heutigen Tag die chinesische Kultur, Sozialordnung und das Denken der Chinesen maßgeblich geprägt haben, von ihm beeinflusst wurden.
Die primäre Idee des I Ging ist, dass alles, was in der Welt – nicht nur im Materiellen, sondern auch im Feinstofflichen – existiert, auf zwei Urprinzipien, dem männlichen Yang und dem weiblichen Yin, basiert und dass durch deren verschiedenartige Mischungsverhältnisse alle Erscheinungen in Natur, Psyche und Gesellschaft entstehen. Durch Yin und Yang wird auch ein Gleichgewicht in der Welt vorgegeben, das wie zwischen zwei großen Waagschalen immer wieder für den notwendigen Ausgleich sorgt, so dass, wenn das Böse auf dem Vormarsch ist, gleichzeitig auch das Gute stärker wird. (Siehe auch Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ und Goethes Mephisto: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“) Diese feinstoffliche Kraft, welche die Tendenz hat, alle Erscheinungen immer wieder in ihre ursprüngliche Harmonie zu bringen, nennt der Chinese auch Tao. Das Tao ist der Garant dafür, dass das freie Spiel der Kräfte, mit den Polen Yin und Yang, mit absoluter Notwendigkeit jederzeit im Zustand der Balance ist. Diese Gewissheit scheint wohl auch der tiefere Grund für die sprichwörtliche Gelassenheit des fernöstlichen Weisen zu sein.
Das Besondere am I Ging, im Gegensatz zu anderen Heiligen Schriften, ist nun die Beobachtung, dass Natur und Mensch in einem mysteriösen Spiegelverhältnis zueinander stehen. Alles was im Leben des Menschen stattfindet, zeigt sich auch in den Naturereignissen um uns herum und im Wandel der Jahreszeiten. Die alten Weisen in China erkannten, dass die beobachtbaren Naturerscheinungen lebendige Entsprechungen zum menschlichen Leben, seiner Psyche und seinem Geist darstellen. Alles auf der Welt hängt also mit allem durch ein unsichtbares geistiges Etwas zusammen, und jeglicher Impuls hat einen Einfluss auf andere und anderes, ob dieses nun nah oder fern ist. Und so gesehen ist jeder Mensch sogar der Mittelpunkt des Universums, auf den sich alles bezieht – hätten wir nur die Sinne dafür, das auch wahrzunehmen. Und so zieht sich durch dieses Buch auch wie ein roter Faden der Gedanke, dass der „Weise“ oder „Edle“, wie der deutsche Sinologe und Erschließer des I Ging Richard Wilhelm den gerechten Menschen nennt – im Gegensatz zum sogenannten „Gemeinen“, der immer nur die äußere Oberfläche der Dinge sieht und stets seinen eigenen scheinbaren Vorteil im Blick hat – sich nicht in das Weltgetriebe mischen muss, um einen großen Einfluss auf das Geschehen in der Welt auszuüben. Mit der richtigen Geisteshaltung kann er im Prinzip in seinem Zimmer bleiben und trotzdem, im Verborgenen, einen unerkannten, bestimmenden und maßgebenden Einfluss auf das Weltgeschehen haben.
So heißt es beispielweise im Zeichen 61, Innere Wahrheit, zu Linie Neun auf zweitem Platz: „Der Edle weilt in seinem Zimmer. Äußert er seine Worte gut, so findet er Zustimmung aus einer Entfernung von über tausend Meilen. Wie viel mehr noch aus der Nähe! Weilt der Edle in seinem Zimmer und äußert seine Worte nicht gut, so findet er Widerspruch aus einer Entfernung von über tausend Meilen. Wie viel mehr noch aus der Nähe! Die Worte gehen von der eignen Person aus und wirken auf die Menschen. Die Werke entstehen in der Nähe und werden sichtbar in der Ferne.“
Nun muss man dazu bemerken, dass dieser Text auf der Bearbeitung und Übersetzung Richard Wilhelms beruht, dem die Entdeckung und Erschließung dieser Heiligen Schrift der Chinesen praktisch zu einer Lebensaufgabe wurde. Erst sein epochaler Beitrag, der gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, machte das I Ging zu dem, was es heute geworden ist. In seiner Bearbeitung finden wir eine quasi ideale Synthese von östlichem und westlichem Denken. Wilhelm hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zehn Jahre der Übersetzung des I Ging gewidmet, was dieses Buch erst im Westen weithin bekannt werden ließ. Seitdem wird das I Ging auch bei uns von Menschen verschiedener Lebensbereiche studiert und befragt: Künstler, Therapeuten, Schriftsteller, aber einfach auch gebildete Menschen lassen sich von diesem Wunderwerk seit Anfang des 20. Jahrhunderts inspirieren, sowohl wegen seiner gewaltigen Bildsprache und seiner eindrucksvollen inneren Struktur wie auch wegen der Möglichkeit, es als Lebenshilfe zu nutzen und damit Rat und Richtung für das eigene Leben zu finden.
Denn das ist eine weitere Besonderheit: dass das I Ging nicht nur eine Heilige Schrift ist, sondern darüber hinaus auch als Orakel benutzt werden kann, und als solches hatte es von Anfang an den Sinn, dem geistig strebenden Menschen einen praktischen Leitfaden für ein Leben im Einklang mit dem Tao zur Verfügung zu stellen. Man kann dem I Ging also Fragen zur eigenen Lebenssituation, sowohl in geistigen als auch in materiellen Belangen, stellen. Dafür gibt es ganz konkrete praktische Methoden: entweder das Werfen von drei Münzen oder das Abzählen von Schafgarbenstengeln – scheinbar nach dem Zufallsprinzip. Nun ist es für den westlichen Verstand schwer zu fassen, dass das sechsmalige Werfen von drei Münzen, mithilfe der 64 Zeichen mit ihren vor mehr als 2500 Jahren ausformulierten Bedeutungen, in der Lage sein soll, uns unsere aktuelle Situation, mit all ihren verworrenen energetischen Beziehungsmustern, zu erklären. Aber stellten wir nicht gerade fest, dass für den chinesischen Weisen der Mensch, nicht mit dessen begrenzter Persönlichkeit und schon gar nicht mit seinem Ego, aber sehr wohl mit seinem göttlichen Geist, das Zentrum der Existenz ist?
In den 64 Zeichen und sechs Linien, also insgesamt 384 Variationen zuzüglich der Wandlungszeichen, sind praktisch alle Lebenssituationen, die irdisch möglich und denkbar sind, zu finden. Das I Ging beweist dadurch, vielleicht überzeugender als alle anderen theologischen, philosophischen oder religionsphilosophischen Erklärungsversuche, dass das Leben kein Chaos und keine Aneinanderreihung von Zufallssituationen ist, sondern dass es, genau wie Mikrokosmos und Makrokosmos, aus logischen, in Maß und Zahl geordneten Mustern aufgebaut ist und selbst scheinbar völlig chaotische Lebenssituationen immer noch auf einer zugrunde liegenden göttlichen Struktur beruhen. Der Mensch, und zwar jeder einzelne Mensch, ist auf diese Weise das Zentrum des Universums, und Mystiker berichten von Erleuchtungserfahrungen, in denen sie schauen durften, dass jedes Blatt, das vom Baume fällt, jede Katze, die scheinbar zufällig die Straße überquert, und jeder Windhauch, der die Wange streift, in sich eine Botschaft für diesen einen Menschen beinhaltet, die wir aber alle im Laufe der Entwicklung unserer Zivilisationen, mit ihrer ganzen intellektuellen Überbetonung, zu lesen verlernt haben. Aus der Bibel kennen wir diese Bewusstseinstrübung als die Allegorie von der Vertreibung aus dem Paradies. Damit verbunden ist, und das ist ein schmerzhaftes, aber notwendiges Eingeständnis, dass wir normalerweise uns selbst und schon gar die Wege unseres Schicksal nicht kennen. Ja, wir haben noch nicht einmal einen Sinn für diese Fragestellung entwickelt, und so hat man uns beigebracht, einfach alles mit „Zufall“ zu erklären. Aber selbst in diesem Begriff steckt noch nach dem Wortsinn, dass uns etwas von irgendwoher zufällt. Auf der einen Seite ist es also ermutigend, wie bedeutend der Mensch ist, andererseits liegt darin, durch unser Nichtwissen dieser Tatsache, auch eine große Tragik und ein kaum zu ertragender Ernst, den anzunehmen wir mit unserer kleinen Persönlichkeit im allgemeinen nicht imstande sind. Dazu bedürfte es eines gänzlich erneuerten und wiedergeborenen Menschengeistes.
Und gerade der praktische Umgang mit dem I-Ging-Orakel lehrt uns noch eine andere erstaunliche Tatsache. Wie kann es sein, dass durch die Mechanik eines banalen sechsmaligen Wurfs von drei Münzen nach dem Zufallsprinzip, und daraus folgend der Ermittlung von meist zwei konkret ausformulierten Zeichen, ein mindestens 3000 Jahre altes Buch unsere persönliche Situation adäquat beschreiben kann, da, wo wir selbst in unserem Leben keinerlei Struktur oder Tendenz hätten erkennen können? Denn wir Durchschnittsmenschen taumeln tatsächlich meistens wie Blinde, oder bestenfalls Träumende, durch unser eigenes Leben und werden oft erst, durch die Ecken und Kanten, an denen wir uns wieder einmal gestoßen haben, schmerzlich ermahnt, dass hier kein für uns gangbarer Weg ist, wenn wir uns nicht gänzlich in Dickicht und Gestrüpp verfangen, wo es auf den ersten Blick weder vor noch zurück geht.
So stellt das I Ging tatsächlich eine konkrete Lebenshilfe aus höherer Sicht, auch und gerade für das tägliche Leben, dar – etwas, das die Bibel eben gerade nicht sein will, weil sie einen ganz anderen Zweck zu erfüllen hat, auch wenn sie von vielen „Christen“ als solche Lebensberatung missbraucht wird. Man könnte nun fragen, ob dann nicht auch dieses Orakel von Menschen, die Böses im Sinn haben, für ihre dunklen Bestrebungen missbraucht werden könne? Und auch daran zeigt sich wieder die besondere Qualität einer Heiligen Schrift: dass sie immer in der Lage ist, sich vor Missbrauch zu schützen. Denn es heißt bei Richard Wilhelm ausdrücklich, dass das I Ging nur für die „Edlen“ und nicht für die „Gemeinen“ verfasst wurde. Das bedeutet auch, und das habe ich selbst so in meinem persönlichen Umgang mit dem I Ging erfahren, dass, je weiter man in seiner geistigen und ethischen Entwicklung vorangekommen ist, die Aussagen und Ratschläge um so klarer werden, gerade auch für die dem Orakel gestellten Fragen, bis hinein in eine fast unglaubliche, wundersame Detailgenauigkeit. Etwas da draußen scheint uns und unser Leben besser zu kennen als wir selbst!
Gerade durch die geniale Übersetzung und Bearbeitung Richard Wilhelms wird auf der anderen Seite deutlich, wie nahe die Grundideen des I Ging mit denen der Bibel verwandt sind, ebenso wie übrigens auch die indische Bhagavad Gita in der Übersetzung und Bearbeitung von Sarvepalli Radhakrishnan, einem indischen Religionsphilosophen, Gelehrten und Politiker, der von Anfang bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wirkte. Durch die Arbeit dieser beiden berufenen Gelehrten wird es auch dem westlichen, christlich ausgerichteten Menschen plausibel, dass alle bedeutenden Heiligen Schriften der Menschheit einander nicht nur in ihrer jeweiligen Besonderheit wunderbar ergänzen, sondern aus der gleichen Quelle inspiriert wurden, welche wir uns nicht scheuen unseren gemeinsamen Schöpfergott zu nennen.
Das Urteil
„Die Wiederkehr. Gelingen…
Nach einer Zeit des Zerfalls kommt die Wendezeit. Das starke Licht, das zuvor vertrieben war, tritt wieder ein. Es gibt Bewegung. Diese Bewegung ist aber nicht erzwungen. Das obere Zeichen Kun hat als Charakter die Hingebung. Es ist also eine natürliche Bewegung, die sich von selbst ergibt. Darum ist die Umgestaltung des Alten auch ganz leicht. Altes wird abgeschafft, Neues wird eingeführt, beides entspricht der Zeit und bringt daher keinen Schaden. Vereinigungen von Gleichgesinnten bilden sich. Aber dieser Zusammenschluss vollzieht sich in voller Öffentlichkeit, er entspricht der Zeit, und darum ist jedes egoistische Sonderbestreben ausgeschlossen, und aus diesen Vereinigungen ergibt sich kein Fehler. Die Wiederkehr ist im Naturlauf begründet. Die Bewegung ist kreisförmig. Der Weg ist in sich geschlossen. Darum braucht man nichts künstlich zu überstürzen. Es kommt alles von selber, wie es an der Zeit ist. Das ist der Sinn von Himmel und Erde…“
I Ging, Zeichen 24, Fu – Die Wiederkehr (Die Wendezeit)
Urheber ist Maximilian Yehudi Schäfer