Meine magische Mysterienreise

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Absturz und Aufbruch

„Ein junger Mensch muss in die Welt hinaus.“ Aaron schaute mich mit seinen stahlblauen Augen durchdringend an. Er war in den letzten Monaten zu so etwas wie einem Mentor für mich geworden, dieses kleine, alte Kräutermännlein, das in keine Schublade passte und einen Bio-Krämerladen betrieb, der nicht von dieser Welt war. Ich fühlte mich in dieser Zeit vollständig haltlos und voller Selbstzweifel, hatte es aber irgendwie über mich gebracht, ihm mein ganzes Elend zu offenbaren, obwohl ich es sonst von klein auf gewohnt war, meine trostlosen Seelenlagen lieber für mich selbst zu behalten. Im späten Frühjahr 1974,  zwei Jahre vor der Begegnung mit Aaron, hatte ich, voll überzeugt von der Richtigkeit dieses Schrittes, den Schutz des Ashrams meines damaligen Meisters in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen. Nach einigen schnell wechselnden Wohnsituationen hatte ich schließlich ein komfortables Gartenhaus in Solln am Stadtrand Münchens bezogen, so wie ich es mir immer erträumt hatte. Und als ich bei meinem Einzug im Beton der Terrasse eine einfache Zeichnung – eingekratzt, als er noch frisch war – mit dem Bibelspruch: „Wie ein Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir“ (Ps 42,2) vorfand, sah ich darin eine erneute Bestätigung, ein Liebling der Götter zu sein und das Richtige getan zu haben.

Nach der anfänglichen Euphorie aber, die der Schritt in die geistige Unabhängigkeit mit sich gebracht hatte, war ich allmählich und kaum merklich in eine innere Leere und äußere Isolation geraten. Tagsüber verdiente ich mir mein Geld als Gärtnergehilfe, hauptsächlich mit Schnelldekorationen von Beerdigungen betraut, (eine Arbeit, deren offenkundiger symbolischer Bezug mir damals nicht auffiel), und abends saß ich mutterseelenalleine und ohne soziale Kontakte in meinem schlichten Holzhäuschen und versuchte mit wenig Erfolg meine wachsende Langeweile, Einsamkeit und Depression niederzukämpfen. Und ich hätte es wohl auch ganz gut geschafft, vor den wenigen verbliebenen Kontaktpersonen und auch vor mir selbst das ganze Ausmaß meines Elends noch irgendwie schönzureden, wäre da nicht diese eine denkwürdige Nacht gewesen, in der die ganze Fassade meines jämmerlichen Lebens wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach. Ganz plötzlich und unerwartet fand ich mich da auf dem Boden meines Hüttchens kniend wieder, zutiefst verzweifelt nach meiner Mutter schreiend, die zu jenem Zeitpunkt gar nicht weit entfernt wohnte, aber der ich natürlich niemals auch nur im Traum meinen Seelenzustand hätte offenbaren wollen.

Und jetzt saß ich da wie ein Häufchen Elend in einem abgehalfterten Korbsessel neben Aaron, meinen verschämtem Blick auf etwas gerichtet, das man nur mit großem Wohlwollen als Garten bezeichnen konnte, und stammelte: „Ich bin der schlimmste Mensch unter der Sonne.“ „Papperlapapp, du bist auch nur der gleiche Knochen wie jeder andere auch.“ Merkwürdigerweise war dieses Wort aus dem Munde dieses Sonderlings jetzt ein Trost für mich, der ich fast mein ganzes Leben lang mich in der Vorstellung gesonnt hatte, jemand Besonderes zu sein. „Meinst du wirklich?“ „Aber ja doch! Fahr hinaus, lass erst mal alles hier hinter dir, dann siehst du die Welt wieder mit anderen Augen.“ „O.K.?!“ „Wohin zieht es dich denn?“ „Keine Ahnung!“ Doch nach einer Pause kurzen Nachdenkens: „Naja, vielleicht mal wieder nach Skandinavien. In Kopenhagen soll es ein alternatives Stadtviertel geben, das ganz autonom von Aussteigern verwaltet wird, „Christiania“, das würde ich gerne mal kennenlernen.“ „Meinst du wirklich? Ist noch ein bisschen kalt da, jetzt im März. Wäre nicht die Wärme des Südens jetzt besser für dich?“ Bei diesen Worten mischte sich in seinen durchdringenden Blick so etwas wie väterliche Fürsorge, die auf mich ähnlich wirkte wie lindernde Heilsalbe auf eine offene Wunde. „Mal schauen, ich lass’ von mir hören.“

Der Wahnsinn beginnt

Nur einige Tage später stand ich am frühen Nachmittag und bei sehr frischen Temperaturen, aber leidlich geschützt von meinem grau-gelben Indio-Poncho über meinem Rucksack, mit meinen sieben Sachen, aber innerlich aufgeräumt und in einer Art „Hans-im-Glück-Modus“ an der nächstgelegenen Autobahnauffahrt Richtung Norden. Ich wartete keine fünf Minuten mit meinem Pappschild mit dem großen F darauf, als ein roter, vergammelter Renault R4 abrupt neben mir anhielt. Ein Schiebefenster wurde mit der Hand nach hinten gezogen, so wie das bei dem R4 der damaligen Zeit Standard war, und ein optimistisches Jungmännergesicht erschien dahinter, das mich freundlich und mit offenen Blick angrinste. „Nach Frankfurt?“ „Ja, aber wir müssen noch einen Abstecher machen…“ „Kein Problem, ich hab jede Menge Zeit“ „O.K., dann steig ein.“ Er hielt mir die hintere Seitentür auf und ich quetschte mich mit meinem Sack und Pack auf die schmale Sitzbank. Sofort stieg mir ein vertrauter Duft in die Nase, und bevor ich mich noch mit dem Gesicht meines Fahrers vertraut machen konnte, reichte mir schon eine Hand vom Vordersitz einen strammen Joint nach hinten, und ich dachte mir nur: „Das geht ja vielversprechend los.“

Ich konnte nicht ahnen, dass ich mich gerade auf eine Art rumpelnden Schleudersitz begeben hatte, wie man ja als „Tramper“ immer irgendwie auch seine Verantwortung für Leib und Leben beim Fahrer abgeben muss. Ebenso wenig war mir zu diesem Zeitpunkt klar, dass dieses Ritual mit dem kreisenden Joint in gewisser Weise zum roten Faden dieses meines Wahnsinns-Trips, den das Schicksal da für mich bereithielt, werden sollte. Der „Abstecher“, der zu machen war, bedeutete, dass wir schon bald die Autobahn verließen und auf zumeist von Baumalleen begrenzten Landstraßen auf sehr schlüpfrigem Untergrund – es hatte in der Nacht geschneit – einer für mich ungewissen Bestimmung entgegenfuhren. Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass das Tetrahydrocannabinol in dem Haschisch des die Runde machenden Joints, wohl auf unseren Fahrer derart wirkte, dass es in ihm so etwas wie ein verborgenes Rennfahrergen freilegte und er ohne Sinn und Vernunft sich mit viel größeren und schnelleren Kraftfahrzeugen messen zu müssen glaubte. Er schien nun von dem unwiderstehlichen Drang erfüllt, alles zu überholen, was auch immer vor ihm auftauchte, und wenn ihm dies wieder einmal gelang, eine Art kindisches Indianer-Triumphgeheul von sich zu geben.

Leider forderte das dann immer wieder einmal bei einem der so gedemütigten Mercedes- oder BMW-Fahrer eine statusorientierte Trotzreaktion heraus, sich nicht von einem R4 überholen zu lassen, und so wurden wir immer wieder in actionfilmreife Verfolgungsjagden verwickelt, bei denen mir, trotz der abmildernden Wirkung unserer süßen Vernebelung, fast Sehen und Hören verging. Da unser Ersatz-Schumacher (der echte war zu diesem Zeitpunkt gerade mal sieben Jahre alt) mit seinen wenigen Pferdestärken auf der Geraden keine Chance hatte, musste er dies durch allerlei waghalsige Manöver ausgleichen. Dies sah dann beispielsweise so aus, dass er kurz vor einer Kurve, wenn der Konkurrent zwangsläufig abbremsen musste, trotz matschiger Fahrbahn einfach full speed weiter auf dem Gaspedal blieb, überholte, dann brachial herunterbremste, um gerade noch im letzten Moment schlitternd die Kurve zu kriegen. Gottseidank war dann unserem Ersatz-Schumi, spätestens als selbst sein Mitfahrer, der wohl einiges gewohnt war, nach einem besonders waghalsigen Kamikaze-Manöver laut aufheulte und seinen Freund mit einem „Sag mal, spinnst du?“ angeiferte, auch irgendwann klar, dass er diesmal den Bogen überspannt hatte, was man auch an seinen stark geröteten Ohren ablesen konnte, und von dem Moment an war uns allen eine ruhigere und entspanntere Fahrt beschieden.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf

Das nächste, an was ich mich deutlich erinnere, ist eine Raststätte in der Nähe von Frankfurt. Mein Renault-Chauffeur hatte mich freundlicherweise lebend und unversehrt dort abgeladen. Es dämmerte bereits, und in den Scheinwerferkegeln der Autos tanzten die Schneeflocken. Die Kälte begann unter meine nur notdürftig auf Winter abgestimmte Kleidung zu kriechen. Als ich mich mit meinem schmucklosen Rucksack in der Hand Richtung Autobahnausfahrt orientierte, fiel mir ein junges Mädchen auf, das etwas verloren seitwärts der Zapfsäulen stand und von dort die haltenden und abfahrenden Autos in Augenschein nahm. Sie war ganz offensichtlich wie ich auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit, aber ohne sichtbare Anzeichen, irgendeine Initiative ergreifen zu wollen. Sie strahlte dabei etwas so Verletzliches und Hilfsbedürftiges aus, dass sie mich unwillkürlich an das Sterntaler-Mädchen in einem Märchenbuch der Brüder Grimm aus meiner Kindheit erinnerte und ich nicht anders konnte als sogleich auf sie zuzugehen. Als sie merkte, dass ich sie meinte, drehte sie sich mir zu und ich sah ein hübsches, selbstbewusstes, fast elfenbeinernes Gesicht mit einigen verstreuten Sommersprossen unter einem aschblonden Kurzhaarschnitt. Ihre Augen sahen mich offen an, ohne jede Spur von Reserviertheit oder aufgesetzter Freundlichkeit, mit einem Wort: maskenlos. Jetzt sah ich auch, wie klein und zart sie war und dass sie nur eine dünne, dunkle Stoffjeans anhatte, dazu leichte weißgraue Turnschuhe, über denen noch die dünnen, hellen Mädchensocken hervorspitzten, und dass sie über einer weißen Sommerbluse ein blausilbrig schimmerndes Jackett mit Rüschchen und Schulterpolstern trug. Sie hatte die Schultern hochgezogen, und jetzt, unmittelbar vor ihr stehend, sah ich, dass sie leicht zitterte.

„Hallo, du suchst wohl auch einen Ride?“ sprach ich sie zögerlich an. Statt einer Antwort nickte sie nur, verzog aber ansonsten keine Miene. „Ich fahr nach Norden, Hamburg oder Bremen, und will dann morgen nach Kopenhagen weiter – und du?“ Wieder sagte sie nichts, deutete nur mit dem Finger seitlich nach unten, wo ich ein eher unauffälliges Pappschild vor einem braunen Ledersack erblickte, mit einem grossen „B“ darauf. „ Ach so, na klar, Berlin.“ Wieder nur ein Nicken, wobei ihre Augen mich mit leicht nach unten gesenktem Kopf fixierten und gerade als ich anfing mich zu fragen, ob sie vielleicht stumm wäre, sagte sie leise: „Ich friere, kannst du mich mal in den Arm nehmen.“ Mehr als die Direktheit dieser Worte traf mich der Klang ihrer Stimme. Sie war nicht einfach nur glockenhell, sie hatte etwas Ätherisches, wie aus einer anderen Dimension. Und gleichzeitig hatte sie etwas Unwiderstehliches. Ich konnte mich nicht erinnern, vorher eine solche Stimme gehört zu haben, und trotzdem war es wie eine Art Déja-vu oder besser ein Déja-entendu. Später, als ich mir in meiner Erinnerung ihre Stimme wieder vergegenwärtigte, dachte ich mir, dass wohl so ähnlich die Stimmen der Sirenen geklungen haben müssten, die versuchten, Odysseus von seinem Ziel weg zu leiten.

Ich legte meine Arme um sie und begann, mit sanftem Druck ihren Rücken zu reiben, zögerlich und mechanisch, um so etwas wie Reibungswärme zu generieren. Dies löste die nächste überraschende Reaktion bei ihr aus, mit der ich in diesem Moment überhaupt nicht gerechnet hatte. Fast im gleichen Augenblick, in dem ich mit meinen unsicheren Armbewegungen ihren Rücken bearbeitete, spürte ich eine eindeutig sexuelle Energie sich um meine Lenden herum aufbauen. Und um erst gar nicht den Anschein von Zweideutigkeit in mir aufkommen zu lassen, wie ich das nun zu verstehen habe, fing sie synchron zu meinem Armbewegungen an, mit ihren Hüften zu kreisen, um schließlich sanft meine Hände darauf zu legen und mich so an ihren Bewegungen Anteil haben zu lassen. Dies tat ich dann auch etwas zögerlich, wobei gleichzeitig mein Kopf alle mir verfügbaren Schubladen durchscannte, ob ich dort vielleicht eine Handlungsanleitung für eine solche Situation finden könnte. Ich fand keine, aber das Schicksal kam mir insofern zu Hilfe, als ich einen auffällig bunten VW-Bus auf die Tankstelle rollen sah, der alle Merkmale für eine passende Mitfahrgelegenheit aufwies.

„Schau mal den Bus da, ich denke, wir sollten die mal fragen!“ ergriff ich die Gelegenheit, um aus meiner etwas befremdlichen Situation herauszukommen. Wir nahmen beide unser Bündel, und beim Näherkommen sprang mir gleich das große B auf dem Nummernschild ins Auge. Ein junger Mann mit blonden langen Haaren und darüber einer bunten Wollmütze, wie man sie von den Indios auf den Fußgängerzonen kannte, war drahtig aus dem Fahrersitz gesprungen und gerade dabei, den Tankdeckel abzuschrauben. „Hi, habt ihr vielleicht noch zwei Plätze nach Berlin frei?“ wandte ich mich an ihn, und es fiel mir dabei nicht mal auf, dass ich damit gerade mein erklärtes Fahrtziel geändert hatte. Er sah mich kurz und kaum merklich leicht abschätzend an – sah ich ihm womöglich nicht freakig genug aus? – dann wanderte sein Blick auf die Elfe an meiner Seite. Sofort entspannten sich seine Gesichtszüge deutlich und er sagte nur kurz: „Na klar, steigt ein.“

Der gesamte hintere Bereich des Busses bestand aus einem Matratzenlager, und nachdem wir unsere Bündel verstaut hatten, blieb uns fast keine andere Wahl als uns unmittelbar in die Horizontale zu begeben, was bei mir eher Beklemmungen als ein Gefühl von Entspannung auslöste. Inzwischen hatte sich am Beifahrersitz eine junge Frau mit einem dampfenden Becher mit Kaffee eingefunden und strahlte uns jetzt mit einem breiten entwaffnenden Lächeln an. „Hallo, ihr beiden, ihr wollt auch nach Berlin, ist ja ganz schön ungemütlich geworden, da draußen.“ „ Ja, danke nochmal, das war unsere Rettung.“ Das war natürlich etwas sehr übertrieben, ich dachte aber kurz, dass das wohl ganz gut ankommen müsste, weil es jedem Menschen insgeheim schmeichelt, wenn er sich eine gute Tat zuschreiben kann. „Besonders äh, meine … meine Begleiterin“ – erst jetzt wurde mir klar, dass ich ihren Namen nicht wusste – „äh, ist kleidermäßig nicht gerade auf ein solches Wetter eingestellt.“ Plötzlich beschlich mich das merkwürdige Gefühl, dass ich gerade Verantwortung für das Wohlergehen dieses Wesens übernommen hatte, und ich fragte mich bange, ob ich jetzt wohl auch die gesamte Kommunikation mit dem freundlichen Pärchen allein zu führen habe. Inzwischen hatte sich der blonde Naturbursche mit einem hörbar heftigen Schwung in den Fahrersitz geworfen und strahlte uns mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie seine Partnerin an, während er im Habitus eines Könners gleichzeitig den Motor startete. „Ich bin Sven und das ist Svenja, fühlt euch wie zuhause“, und ich dachte sofort an Papagena und Papageno. „Max“ stellte ich mich vor und drehte mich unwillkürlich Hilfe suchend an meine mysteriöse Begleitung, bereit für die nächste Peinlichkeit, wenn ich sie jetzt vernehmbar nach ihrem Namen fragen müsste, nachdem wir wohl auf dem Parkplatz einen sehr intimen Eindruck vermittelt haben mussten, aber zu meinem Erstaunen sagte sie artig und deutlich „Ich bin die Babs, hallo.“ Ich atmete erleichtert durch.

„Babs?“ Der Name schien mir irgendwie nicht recht zu passen, viel zu allerweltsmäßig für so ein außerirdisches Wesen. In meiner Vorstellung waren Babse stämmige Frauen mit rotgefärbten, künstlichen Locken, die ständig ihren Optimismus zur Schau stellten, grimmige Prolo-Freunde mit Motorrad und Ohrring hatten und der Welt vermittelten, dass sie alles und alle um sie herum im Griff hatten. Und sofort fing ich halb im Unbewussten an, mir meine Zeit damit zu vertreiben, mir zu überlegen, welcher Name wohl stimmiger für sie wäre. Nachdem ich innerlich zirka zwanzig Namen durchgegangen war, blieb ich bei „Esther“ hängen. „Esther“, ich schaute zu ihr hinüber, sie hatte sich zu mir hin eingerollt und ihr Gesicht lag eine Handbreit von meiner Brust entfernt und sah, bei dem fahlen Licht, das von der Innenleuchte über dem Fahrersitz auf uns fiel, jetzt besonders gläsern aus. „Esther“, ja, das könnte passen. Erst jetzt merkte ich, warum das Licht da vorne noch an war. Gerade ließ Svenja ihre Zunge routiniert über die Schnittstelle von mindestens sechs Blättchen Zigarettenpapier gleiten, die einen ehrfurchtgebietenden Joint zusammenhielten. Im nächsten Moment ging das Innenlicht aus und ich sah jetzt im entgegenkommenden Scheinwerferlicht kurze, aber heftig ausgestoßene Rauchwolken aufsteigen, wie bei einer Dampflok, nur ohne Geräusche, und nachdem sich auch unser Fahrer für einige Züge daran gelabt hatte, streckte Svenja den rot glimmenden Stengel wortlos zwischen den Vordersitzen zu uns nach hinten durch. Ich nahm ihn mit einem verunsicherten „Oh, danke“ entgegen, zog aber nur kurz und alibimäßig daran, einerseits weil ich eigentlich ganz froh war, dass ich in Anbetracht der unüberschaubaren Lage, in der ich mich befand, gerade dabei war, die Reste meines klaren Verstandes langsam wieder zurückzugewinnen, andererseits weil ich als Nichtraucher, der ich Zeit meines Lebens geblieben war, Tabak nicht wirklich gut vertragen konnte. „Willst du, Babs“? Ich tippte sie leicht mit dem Joint zwischen den Fingern an, worauf sie die Augen öffnete, sich ruckartig aufsetzte, kurz, aber so heftig an der brennenden Tüte sog, dass man sofort die Routine unzähliger Jointinhalationen dahinter erkannte, um sich dann sofort wieder wortlos fallen zu lassen und sich wieder zu mir hin einzurollen. Ich reichte den Joint wieder unseren Gastgebern nach vorne und legte mich dann, ebenfalls zu Babs ausgerichtet, zurück auf die weiche Unterlage.

Da lag ich nun neben diesem unbekannten Wesen. Innerhalb von einer halben Stunde hatte ich mal eben kurz mein erklärtes Fahrziel Kopenhagen gegen Berlin eingetauscht und fand mich plötzlich in einer Situation, für die mir die sozialen Koordinaten fehlten. Dieses Mädchen wirkte in ihrer ganzen Erscheinung so verletzlich, dass sie die männliche Hilfsbereitschaft geradezu anzog, wie ein Magnet einen Eisennagel. Ich würde das heute das „Lolita-Prinzip“ nennen. Auf der anderen Seite schien sie völlig identisch mit ihrer ganz eigenen Art und ihrem doch für Außenstehende etwas unkonventionellen Verhalten und schien sich nicht im Geringsten mit ähnlichen Gedanken wie ich herumzuschlagen. So wie sie da lag, eingerollt an mich gekuschelt, mit ihren komplett entspannten Gesichtszügen, die ich in den fahlen Lichtreflexionen der entgegenkommenden Scheinwerfer von Zeit zu Zeit erkennen konnte, erinnerte sie vielmehr an den entrückten, vertrauensvollen Zustand einer Katze, die sich mit dem beruhigendem Körperkontakt zu ihrem Herrchen total entspannt. Nach einigen Gedankenkreisläufen, die immer wieder nur zu demselben Ergebnis führten, nämlich keinem, gab ich es auf, herauszufinden, worauf ich mich hier wohl eingelassen hatte, und tat das einzig Mögliche: Ich fügte mich in meinen Zustand und begann mich schließlich an dem Selbstverständlichkeitsprinzip, das meine unbekannte Begleiterin fast greifbar ausstrahlte, zu orientieren. Was allerdings bei ihr mehr wie eine Art nirwanischer Zustand erschien, war bei mir eher ein banges sich-der-Situation-Fügen, in Ermangelung einer wirklichen Alternative. Erwartete sie vielleicht jetzt von mir, dass ich da weitermachte, wo wir auf dem Parkplatz durch das Auftauchen des Busses unterbrochen wurden? Ich konnte keine Anzeichen oder geheimen Signale von ihr ausmachen. Sollte ich mich einfach irgendwie herantasten und schauen, wie sie dann reagierte? Als ich bei mir diese Möglichkeit erwog, musste ich mir allerdings eingestehen, dass sie sexuell überhaupt nicht mein Typ war, was es mir leichter machte, es einfach sein zu lassen. Schließlich gelang es mir, einen Zustand herzustellen, den man wohlmeinend auch als Entspannung bezeichnen könnte, und irgendwann muss ich wohl eingeschlafen sein.

Berlin, die erste

Ich erinnere mich nicht mehr im einzelnen, wie wir die Zonengrenze passierten, weder in die DDR noch nach West-Berlin; meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als das Licht von regelmäßig vorbeiziehenden gelben Straßenlaternen anzeigte, dass wir bereits auf der Stadtautobahn in Berlin sein mussten. Als erstes bemerkte ich, dass der Platz neben mir leer war. Als ich mich aufsetzte, um zu schauen, wo Babs war, sah ich ihren Kopf vorne genau zwischen den beiden Fahrersitzen, und mitten in einer regen Unterhaltung mit dem Freak-Pärchen begriffen. Ich wusste gar nicht, dass sie so gesprächig sein konnte! Bei näherem Hinhören stellte sich heraus, dass sie von einem Freund sprach, den sie „Wolfi“ nannte, der anscheinend eine bekannte Persönlichkeit in Berlin war und bei dem sie, wie es sich anhörte, ein und aus ging. Zwar konnte ich, auch nachdem ich einige Zeit aufmerksam zugehört hatte, nicht wirklich heraushören, was jetzt das Besondere an ihm war oder was er eigentlich machte, aber die Art und Weise, wie sie über ihn redete, sollte wohl bei den Zuhörern den Eindruck vermitteln, dass es schon etwas Besonderes war, einen solchen Menschen näher zu kennen, ja sogar zu seinem engeren Freundeskreis zu gehören. Die beiden freundlichen Freaks sagten nicht viel, nur hin und wieder bemerkte ich ein unsicheres „mhm“ und bei dem Mädchen dann und wann ein leicht verlegenes Kopfnicken.

In diesem Moment, gerade als ich meinte, unter der Oberfläche dieses einseitigen Gesprächs von seiten des Pärchens eine unterschwellige Beklommenheit wahrzunehmen, nahm der blonde Naturbursche die Gelegenheit beim Schopf, um dem Gespräch mit einem „Unser Toter ist auferstanden“ und einem freundlichen Lachen in den Rückspiegel eine andere Richtung zu geben. Wie sehr er mit diesem harmlosen Spruch direkt den tiefsten Sinn meiner Mysterienreise traf, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ahnen und sollte ich selbst erst später begreifen. Sofort reckte sich der Kopf des Freak-Mädchens auf dem Beifahrersitz zu mir nach hinten und zeigte mir ein wohltuend unverstelltes Lächeln. Meine unbekannte Fee dagegen drehte sich nur flüchtig und ohne besonderen Ausdruck in ihrem Gesicht nach mir um, so als würde sie diese abrupte Unterbrechung ihrer Schilderung wegen einer solchen Banalität wie meiner Person als unangemessen empfinden.

Diese Reaktion war nicht gerade dazu angetan, meiner Einschätzung der Situation, in der ich mich befand, neue Eckdaten zu liefern, und bevor noch mein Gefühlspegel erneut in Richtung Panik ausschlagen konnte, hielt ich mich erst mal an das vertrauenswürdige, freundliche Pärchen. „Hey, wir sind ja schon in Berlin“, tönte ich übertrieben unbeschwert und fügte ein „Das ging ja schnell“ hinzu, wobei sich sofort mein innerer Richter aktivierte, ob mich eine solche nichtssagende Bemerkung nicht in den Augen der anderen als „Simpel“ outen würde. „Ach, das ist nur ein Klacks für uns, schließlich sind wir im letzten Jahr mit diesem Büschen schon bis nach Indien und wieder zurück gefahren.“ „Klingt gut“, antwortete ich mit unverhohlener Achtung, „wollte ich vor drei Jahren auch schon, ich meine nach Indien, bin aber leider stattdessen hinter schwedischen Gardinen gelandet.“ „Hey, wie das denn?“ ließ sich der Fahrer jetzt mit einem sympathischen, etwas schadenfrohen Lachen vernehmen. Das war meine Gelegenheit, um den Eindruck von Einfaltspinsel sofort wieder revidieren zu können!

„ Na ja“, begann ich mit betont selbstbewusstem Ton in der Stimme, „weil wir besten schwarzen Afghanen nach Schweden bringen und dort verdealen wollten, um mir das Geld für die Reise zu verdienen. Ich wollte unbedingt nach Auroville. Aber mein Schwachkopf von Begleiter musste den Beamten ja freiwillig den Stoff unter der Matte zeigen, obwohl denen ihr lahmer Haschhund nichts gerochen hatte und schon wieder am Abdrehen war. Dadurch bin ich statt in Auroville im Knast von Malmö gelandet. Tja, leider, aber im Nachhinein betrachtet, hatte es ja auch sein Gutes.“ „Krass, aber was war daran das Gute?“ „Na ja, weil ich sonst wohl meinem Guru nicht begegnet wäre! Klingt komisch, ich weiß, war aber so.“ Nun hatte ich ihre Aufmerksamkeit, da war ich mir ziemlich sicher, zählten wir doch das Jahr Sechs der freien Siebziger, und wie zur Bestätigung drehte Babs jetzt den Kopf ganz nach mir um und lächelte mich auf einmal ganz freundlich an. Darauf erzählte ich dann die ganze Story, wie es mir im Knast erging, wie ich dort zum erstenmal von dem Boy-Guru hörte, und wie ich dann bei meiner Rückkehr nach München auf der Straße auch gleich auf ein paar Jünger von ihm traf, dass ich sofort Feuer und Flamme war, und sogar bald danach in den Ashram im „Kreuzhof“ in München, ein großes Appartement-Hochhaus, wo seine Anhänger eine ganze Etage angemietet hatten, eingezogen war. Ja und dass ich dann vor einiger Zeit spontan und bei Nacht und Nebel wieder ausgezogen war, mir jetzt aber gar nicht mehr so sicher sei, ob das auch die richtige Entscheidung war – man aber wohl immer seinem Leitstern zu folgen habe, auch wenn man nicht immer weiß, wohin einen das bringt. Jetzt hatte ich sie endgültig! Nachdem ich mit meiner Schilderung geendet hatte, war erst einmal Stille im Bus. Selbst Babsi schien plötzlich in Gedanken versunken, so als würden meine Worte noch in ihrem Inneren nachklingen. Jetzt war mir auch klar, dass ich genau auf dieser Schiene die Achtung bekommen könnte, die ich für mein Selbstbewusstsein in einer so fragilen Position eines Heimatlosen in der Fremde brauchte, und diese Erkenntnis wurde mir von da an zur Richtschnur auf dieser Reise, bis zu dem Zeitpunkt, wo all dies künstliche Scheinen in einem persönlichen Inferno apokalyptischen Ausmaßes verschlungen werden sollte.

„Da vorne ist schon die Abfahrt nach Charlottenburg, du sagst mir, wie ich fahren muss.“ Ich hörte nur wie von weit weg die wie gehauchten Richtungsangaben von Babsi, weil ich schon wieder meinen eigenen Überlegungen nachhing. Was würde da jetzt auf mich zukommen in Babsis Welt? Würde ich ihren Erwartungen gerecht werden können, mit was für Leuten würde sie mich bekannt machen? Rasch merkte ich jedoch an dem mulmigen Gefühl, das da sofort in mir nach oben kroch, dass ich wieder auf der falschen Schiene war, und so schaltete ich wieder auf den inneren Autopilot, der sich vor einigen Stunden schon bewährt hatte, „que sera, sera“, und merkte dabei, dass man sogar einen solchen ungesicherten Zustand genießen kann, in einem fremden Auto kutschiert zu werden, mit einer bezaubernden, undurchschaubaren Führerin, einfach dem Moment und der Situation hingegeben und irgendwie keine Verantwortung zu haben für das, was passiert.

„Hier ist es, der Eingang dort, du kannst gleich da parken.“ Der Naturbursche sprang gewohnt sportlich aus dem Auto, während ich meinen Rucksack nahm und überflüssigerweise auch Babsis Beutel, obwohl der nicht besonders groß und schwer war. Die Schiebetüre wurde von außen aufgezogen, ich rollte mich nach draußen, zwei flüchtige Umarmungen zum Abschied, ein erneutes Aufheulen des Motors, ein sich entfernender VW-Bus, und da stand ich nun, allein mit einem unbekannten weiblichen Wesen, das sich Babsi nannte, in Berlin, das eigentlich gar nicht auf meiner Agenda gewesen war. Als ich mich umdrehte, hantierte sie schon mit einem Schlüssel an einer dunklen, schweren Eingangstüre aus Holz, wie es in Berlin Hunderttausende gab. Unbewusst schaute ich beim Hineingehen noch auf das Straßenschild, Herderstr. 25, wohl damit ich irgendeine Orientierung hatte, wenn ich mich verlaufen sollte. Aber um sich verlaufen zu können, musste man erst irgendwo hingehören, und obwohl ich tapfer meiner Führerin hinterhertrottete, hatte ich nicht das Gefühl, angekommen zu sein. Babsi schwieg die ganze Zeit, woran ich mich inzwischen gewöhnt hatte, während wir ein lichtloses Treppenhaus hochstiegen – war das Licht kaputt? – und irgendwie hatte ich das nach meinen bisherigen Erfahrungen auch nicht anders erwartet. Schließlich kamen wir vor einer Wohnungstüre zu stehen, in deren Mitte ein schulheftgroßes Foto mit einer Gruppe von lachenden jungen Erwachsenen mit einem nackten Kind zu ihren Füßen klebte.

An einem provisorischen Namensschild waren mindestens vier Namen untereinander zu lesen. Wir traten in einen dunklen Flur, der am Ende nur von einem matten Licht minimal beleuchtet war. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber offenbar waren bereits alle Kommunemitglieder – denn um so etwas ähnliches musste es sich hier wohl handeln – schlafen gegangen. Ich sah Babsi wie dienstbeflissen sogleich in einen Nebenraum verschwinden und kurz danach mit einer eingerollten Matratze, die ihre kleine zierliche Person fast vollständig verdeckte, zurückkommen. Sie schaffte es trotzdem noch, mit dem Ellenbogen auf die Tür neben mir zu zeigen, die ich auch gleich öffnete. Der Raum war unbeleuchtet, aber durch das hereinfallende Licht der Straßenbeleuchtung konnte ich sehen, dass er komplett leer war. Babsi hatte schon die Matratze, die groß genug für zwei war, in der Mitte auf den Boden gelegt und verschwand gleich wieder durch die Tür nach draußen. Kurz darauf kam sie mit einem großen Stapel Bettzeug zurück und danach noch einmal mit den Kissen. Dass der Raum nicht zu beleuchten war, dafür sprachen die dunklen Kabel, die wie Spinnenarme in der Mitte der Zimmerdecke nach unten zeigten, aber ich war fast erleichtert, dass das, was jetzt unvermeidlich kommen würde, sich wenigstens im Schatten der Dunkelheit abspielen konnte. „Ich weiß nicht, ob ich auf eine solche Situation wirklich innerlich vorbereitet bin“, hörte ich mich selbst meinen inneren Dialog abspulen. Babsi hatte seit Stunden kaum ein Wort mit mir gesprochen, und ich wusste schon, dass dies bei ihr nicht viel bedeutete. Aber dieses Schweigen deutete ich in dieser Situation, in der ich mich nun so unvermittelt wiederfand, wohl eher wie Indiz dafür, dass jetzt nicht Worte, sondern Handlungen gefragt waren, Handlungen, die man als Mädchen ihres Typs, in einer solchen Situation, wohl „stillschweigend“ voraussetzen konnte.

Und da stand ich nun und suchte in meinem Inneren erneut nach einer irgendwie gearteten Handlungsanleitung und fand keine. Sie war ja ganz niedlich, aber etwas in unserer sexuellen Chemie fehlte einfach! Ich fühlte mich immer schon mehr von dem eher dunklen, vollrunden, naturmädchenhaften Typus von Frauen angezogen, und das war sie ja nun wirklich nicht. Während ich mich noch dieser Art von fruchtlosen Gedanken hingab und wie bestellt und nicht abgeholt in dem ziemlich großen, leeren Raum herumstand, hatte sie sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit der Kleider entledigt und lag, so weit ich es in dem Zwielicht erkennen konnte, bereits unter der Decke. Hastig tat ich es ihr nach und entschied mich, noch während meiner Verrichtungen, jetzt einfach alle Fünfe gerade sein zu lassen, weil ich aus dieser Nummer so oder so nicht mehr herauskommen würde. Als ich nur noch in der Unterhose dastand, bemerkte ich beiläufig, dass es nicht nur dunkel, sondern auch ziemlich kalt in dem Raum war, und so schlüpfte ich, mich notgedrungen mit meinem Schicksal arrangierend, unter die verlockende Bettdecke, wo ich sogleich von einem lauwarmen und, wie ich mir in meiner Vorstellung ausmalte, schneeweißen Babsikörper empfangen wurde. Dann ging alles ganz schnell. Während ich noch unsicher nach ihren Lippen suchte, hatte sie einige Etagen weiter unten schon wieder mit den kreisenden Bewegungen ihrer Hände an meinen Hüften, verbunden mit der speziellen Energie, begonnen, die ich schon auf der Raststätte kennenlernen durfte. Alles, was unserem „Glück“ jetzt noch im Wege stand, war meine Unterhose, die ich wohl aus politischer Korrektheit, dass ich „nicht nur das Eine wollte“, vorsorglich angelassen hatte, aber auch die stellte kein unüberwindliches Hindernis für eine Frau dar, die wusste, was sie wollte, und so war ich bereits nach nicht mal einer Minute in ihr. Ich tat, was ich meinte, dass in so einer Situation von einem Mann erwartet wird, merkte aber bald schon, dass ich der harten Tatsache, dass sie einfach nicht mein Sexualtyp war, jetzt, da es darauf ankam, Tribut zollen musste. Statt eines gekonnten Liebesspiels war es wohl eher ein mich mechanisch-an-ihr-Abarbeiten, das schon sehr bald dadurch unterbrochen wurde, dass sie sich mich sanft, aber bestimmt von sich stieß, sich unter mir wegdrehte, aufsetzte und mir den Rücken zukehrte. Au weia, das war eindeutig! Ich war zwar in jener Zeit aus Mangel an zielgerichtetem Interesse alles andere als ein „Womanizer“, aber diese Geste war so unzweideutig, dass selbst ich sie nicht anders interpretieren konnte als wie sie gemeint war: Du bist eine Schande für das männliche Geschlecht! Der Rest der Nacht entzieht sich, wohl aus Freudschen Verdrängungsmechanismen, meiner Erinnerung.

Als mich am nächsten Morgen ein trübes Tageslicht weckte, das durch die gardinenlosen Fenster hereinfiel, war der Platz neben mir leer. War sie noch gestern nach unserem verunglückten Liebesspiel gegangen oder erst heute morgen, ich wusste es nicht. Die Tür des kahlen Raumes stand offen und der kleine nackte Junge, der mir schon von dem Foto an der Wohnungstüre bekannt war, lief mehrmals polternd rein und raus. „Er ist wach“, rief er laut durch die Tür hinaus, nachdem ich mich ein Stück aufgerichtet hatte. Gleich danach steckte Babsi ihren blonden Schopf durch die Tür und siehe da: Sie lächelte mich an! Offensichtlich hatten mich meine bescheidenen Liebhaberqualitäten in ihren Augen nicht gänzlich disqualifiziert; womöglich hatte sie mir das ja sogar positiv angerechnet – in dem Sinne, dass ich so spirituell wäre, dass mich wohl diese profane menschliche Seite nicht besonders interessieren würde?! Und so falsch wäre sie mit dieser Einschätzung in meiner damaligen Lebensphase gar nicht mal gelegen.

„Frühstück ist schon fertig, steh auf, ich will dich den anderen vorstellen“, da war sie wieder, diese Selbstverständlichkeit in Babsis Stimme, und doch: Hatte ich da gerade ein wenig Aufregung rausgehört? Schnell streifte ich mir meine schon leicht muffelnden Sachen über, die Socken vorsorglich weglassend, und schon wurde ich von dem kleinen nackten Amor bei der Hand genommen und den langen Flur entlanggeführt. Eine weiße Türe mit altmodisch gerippten Glasfenstern im oberen Drittel war leicht als der Eingang zur Küche auszumachen, die der Kleine jetzt etwas linkisch öffnete. Um einen großen rechteckigen Holztisch herum saßen bereits einige junge Menschen, die mich teils neugierig an- oder eher betont teilnahmslos von mir weg-schauten, als ich mit leicht klopfendem Herzen eintrat. „Das ist Max, den ich heut nacht vom Trampen mitgebracht habe, er ist auf der Durchreise nach Norddeutschland!“ führte Babsi, die mit dem Frühstückzubereiten beschäftigt war, mich artig in der Runde ein. Diese Aussage war zwar formal richtig, klang in meinen Ohren aber wie ein diplomatischer Hinweis, dass die Kommunarden nicht befürchten mussten, dass ich als ungebetener Gast länger bei ihnen absteigen könnte, als nötig. Aber durch ihre übersprudelnde Fröhlichkeit, die sie in solch hartem Kontrast zu meinen gestrigen Erfahrungen mit ihr jetzt zur Schau stellte, war ich schnell beruhigt, dass ich wenigstens keine eisige Atmosphäre zu erwarten hatte. „Das hier ist Anette, Herbie, Romano und Ritschie.“ „Hallo“ – ich hob meine Hand zum Gruß flüchtig und scheu in die Runde, was mir von meinem inneren Beobachter aber sogleich als etwas unsichere Körpersprache gespiegelt wurde. Babsi musste meine leichte Verlegenheit wohl auch gemerkt haben, und wie um mir zu helfen, sie abzulegen, sagte sie unvermutet, wie mit der falschen Tür ins Haus fallend: „Max hat einen spirituellen Lehrer.“ Ich wusste nicht recht, was das in so einer Situation und so völlig unvermittelt zur Sache tat, nickte aber artig wie zur Bestätigung. Erst jetzt fand ich Zeit, mir die einzelnen Gesichter näher anzuschauen. Ich habe, so lange ich denken kann, immer schon versucht, aus den Gesichtern herauszulesen, mit welchem Menschen ich es zu tun habe, und ganz automatisch machte ich das auch hier, um so vielleicht ein paar Hinweise zu bekommen, auf was ich mich einzustellen hätte. Als erstes fiel mir derjenige auf, den Babsi Romano genannt hatte, denn er hatte einen auffällig traurigen, ja fast deprimierten Ausdruck in seiner ganzen Erscheinung. Dabei hatte er mit seinen glatten, gleichmäßigen Gesichtszügen, seinen langen kohlschwarzen Haaren und dunklen Augen und seiner feingliedrigen Statur etwas Nobles an sich. Er war auch der erste, der ein Wort an mich richtete und seine Stimme klang dabei genauso wie er aussah, leise und brüchig: „ Wie heißt dein Lehrer denn?“

„Maharaji!“ „Ach, der von den Beatles?“ „Nein, das ist Maharishi, meiner ist der kleine Dicke“, was die Situation etwas entkrampfen sollte, dabei lächelte ich müde und leicht verlegen. „ Oh, der Boy-Guru, den sie wegen Schmuggels verhaftet haben.“ Sein Ton klang trotz des weiterhin depressiven Untertones jetzt angriffslustig und leicht höhnisch. „Nun, das wurde in der Presse hochgekocht. Hat aber so und so nichts mit seinen Fähigkeiten als Meister zu tun.“ Meine Antwort kam dabei ungewollt kühl rüber, so als hätte ich jemand vor mir, der das, worum es dabei wirklich geht, in Ermangelung eigener Erfahrungen wohl kaum beurteilen könnte. Babsi, sichtlich bemüht, keinesfalls irgendwelche schlechten Schwingungen aufkommen zu lassen, versuchte nun auch Romano ins rechte Licht zu rücken. „Romano ist Magier, er hat selbst Wolfi schwer beeindruckt.“ „Babsi, lass das, du weißt, dass das vorbei ist.“ Dabei zeigten seine Augen für ein paar Momente eine solche abgrundtiefe Traurigkeit, dass es mich im Herzen berührte und bewirkte, dass sofort jegliche Distanziertheit, die gerade eben noch im Begriff gewesen war sich zwischen uns aufzubauen, in mir zusammenfiel. Erst jetzt fiel mir ein Bild an der Wand auf, nicht weit weg von seinem Kopf, welches das bekannte Motiv von Gustave Doré, Luzifers Fall aus dem Himmel, darstellte.

Das Frühstücksritual, das gleich darauf einsetzte, half dann endgültig, die vorhandene unterschwellige Beklemmung aufzuheben, und ich durfte mich im Kreis dieser in meinen Augen doch ziemlich angesagten Kommunarden aufgenommen fühlen. Bei den Kreisgesprächen, denen ich ohne nennenswerte eigene Beteiligung zuhörte, fiel immer wieder der Name Wolfi, der wohl eine Art Leitfigur für die Gruppe war. Jeder schien sich mit seiner persönlichen Geschichte mit ihm in ein besseres Licht rücken zu wollen. „Anette, es wird Zeit, dass ich dich mal zu Wolfi mitnehme, ich glaube du wirst ihm gefallen.“ „Ich weiß nicht, eure Geschichten machen mir eher Angst.“ „Ach, unser Rehlein hat wohl Angst vor dem bösen Wolf. Nimm dir ein Beispiel an Babsi, die war am Anfang auch sehr scheu, jetzt ist sie höchstpersönlich für Frischfleischbeschaffung zuständig.“ Nach diesem offensichtlich bitterböse gemeinten Kommentar von Romano, bei dem ich deutlich ein dunkles Funkeln in seinen Augen erkennen konnte, richtete sich Babsi sogleich betont harmlos an mich: „So ist er, unser Romano, er kann seine eigenen Niederlagen nicht verwinden.“ Das schien zu sitzen, denn der so Angesprochene fiel bei dieser Bemerkung wie kaum merklich in sich zusammen und verließ kurz darauf gesenkten Hauptes die Küche. Die anderen schienen keine große Notiz davon nehmen zu wollen. Ich blickte dagegen Babsi wie fragend an. „Heute nachmittag habe ich dich bei Wolfi angekündigt, bin gespannt, was du von ihm hältst“, sagte sie darauf an mich gewandt, was mir etwas zusammenhanglos erschien. „O.K., ich gehöre dir, vielleicht ist das ja der wahre Grund, warum ich in Berlin gelandet bin, wer weiß.“ „Du wirst schon sehen.“ Mit diesen Worten und einem Blick, der betont verheißungsvoll sein sollte, verließ jetzt auch Babsi die Küche, mich wiederum meinem latenten Gefühl von Unsicherheit überlassend.

Erst jetzt bemerkte ich, dass außer mir nur noch Anette und Herbie am Tisch saßen, letzterer noch wie gedankenverloren Müsli mit einem für die damalige Zeit typischen weiß-blauen chinesischen Keramiklöffel aus einer entsprechenden dazu passenden Schale löffelnd. Er war noch ziemlich jung, wenn auch sein Kopfhaar schon sehr licht war, was bei mir, bei jemandem seines Alters, immer ein völlig übertriebenes Mitgefühl auslöst. Er war stämmig und untersetzt, von seinem Ausdruck her eher aus der Arbeiterklasse und überhaupt das komplette Kontrastprogramm zu Romano. Das Mädchen war mir wegen ihrer engelhaften Erscheinung sofort aufgefallen und hatte mich auch gleich an irgendjemanden erinnert. Jetzt, wo ich sie etwas verstohlen näher betrachtete, wurde es mir schlagartig klar, an wen: die Venus auf dem berühmten Gemälde von Botticelli! Ihre langen rotgoldenen welligen Haare fielen seitlich fast bis zur Hüfte hinunter. Dazu trug sie ein grün-rot geblümtes geripptes knöchellanges Hippie-Kleid. Ihr Teint war hell, die Augenbrauen ebenmäßig bogenförmig und nur wie ein lichter Flaum, und das ganze Gesicht war mit Sommersprossen übersät. Man hätte sie als vollendete Schönheit bezeichnen können, wäre da nicht ihr Mund gewesen, der etwas schief im Gesicht saß. Vielleicht fiel es bei ihr aber wegen der übrigen Makellosigkeit einfach nur stärker auf. Jetzt schaute sie von ihrer Schüssel auf, unsere Augen begegneten sich zum erstenmal, und da strahlte sie mich mit einem entwaffnenden Lächeln an, das vollkommen zu ihrer ganzen Erscheinung passte. Ich lächelte beglückt breit zurück und dachte sofort mechanisch: genau mein Typ von Frau!, auch wenn das mein innerer Beobachter sogleich nüchtern als falsch beanstandete. Aber sie war doch einfach bezaubernd!

Noch während ich kurz überlegte, was jetzt wohl angebracht war, flüchten oder standhalten, sprang der kleine Amor polternd voll überschwänglicher Lebensfreude zur Tür herein. „Wir sind die Krishnas. Jipeeeeeh!“ Er trug eine armlange kitschig angemalte blaue Krishna-Figur herein, der gerade, als er sie auf den Tisch hieven wollte, die stilisierte Flöte, die in Wirklichkeit nur ein Stück trockener Ast war, zwischen mir und Anette zu Boden fiel. Sofort beugten wir beide uns reflexartig und dienstbeflissen herab, was sich aber zu meinem Erstaunen vollkommen natürlich anfühlte. Bevor wir uns dessen versahen, war der kleine Wirbelwind schon wieder draußen verschwunden und wir am Tisch Verbliebenen schauten uns an, und unser Gesichtsausdruck verriet, dass der Kleine irgend eine Art von Magie auf uns ausübte und wir uns alle schon wie ein Teil seiner Welt fühlten, und so harrten wir der Dinge, die da wohl gleich noch kommen würden.

Als er zurückkam, hatte er seine Naturblöße mit einer weiten orangenen Pluderhose bedeckt und um den Hals trug er eine rot-weiß-gelbe Blumengirlande, die bei näherer Betrachtung aus Plastik war. Er legte ein Comic-Heft auf den Tisch, das nicht von Micky Maus, Donald Duck oder Fix und Foxi handelte, sondern die Geschichten des kleinen Krishna-Knaben zum Thema hatte. Jetzt war uns klar, woher die Quelle seiner Inspiration stammte. Er spielte Krishnas Leben nach und band uns ganz selbstverständlich als Figuren in sein kleines unschuldiges Drama mit ein. Und wir drei ließen es uns, je mehr sich seine ganz besondere Magie entfaltete, liebend gerne gefallen. „Du bist jetzt meine Radha und du der Böse, der sie mir gestohlen hat, und du“ – jetzt deutete er auf mich – „du bist mein Bruder und kämpfst mit mir gegen unsere Feinde auf dem Schlachtfeld.“ Damit steckte er mir voller Eifer einen Stecken zu, der meinen Speer darstellen sollte. Und je mehr wir wie selbstverständlich seinen Anweisungen gehorchten – und er verstand es, uns spielend leicht auf Trab zu halten – um so mehr verwandelte er sich vor unseren Augen wirklich in den goldenen lieblichen Krishnaknaben. Wir alle drei waren jetzt vollkommen in seinem Bann, waren seine Diener, Mitstreiter, Geliebte oder Feinde, und wenn auch so manchesmal mein Ego ob einer solchen kompletten Übernahme fast hörbar knirschte, so wäre es mir doch wie ein Sakrileg vorgekommen, das göttliche Spiel zu unterbrechen. Wir hatten uns mittlerweile alle ein kleines bisschen in ihn verliebt, und jeder rationale Gedanke, der in meinem Kopf auftauchte, wie: „wie hingegeben und vollkommen natürlich Anette sich verhält, im Gegensatz zu mir grobem Klotz“, oder ähnliche atmosphärische Störungen, taten fast körperlich weh und ich versuchte sie so schnell wie möglich zu verscheuchen. Der süße Knabe leuchtete jetzt richtig in seiner kindlichen Reinheit, und dieses Leuchten spiegelte sich jetzt auch in Anettes und Herbies Gesichtern wider. Nein, es war keine Einbildung, ich sah es klar und deutlich vor meinen Augen, und obwohl es komplett unsinnig schien, aber hier in dieser versifften Kommuneküche eines Altbaues in Berlin war jetzt Krishnas Reich – und ich ein Teil davon.

In diesem Stil hatte der kleine Goldjunge uns mindestens eine halbe Stunde lang völlig vereinnahmt, mit verschiedenen Dienstanweisungen an uns, die ihm so unschuldig und selbstverständlich über die Lippen kamen, dass wir gar nicht anders konnten als sie sofort nach bestem Vermögen auszuführen. In kürzester Zeit hatte er mit allen möglichen Utensilien und unserer tätigen Mithilfe sein kleines Vrindavan-Reich (Wohnort Krishnas) um sich herum erstehen lassen. Plötzlich und unvermittelt schien er des schönen Spieles müde zu sein, und mit seiner rechten Hand auf das Comic-Heft auf dem Tisch deutend, wendete er sich mir zu: „Lies mir aus dem Krishna-Heft vor!“ Darüber war ich fast ein bisschen erleichtert, weil ich wusste, dass es mir auf die Dauer leichter fallen würde, einem Fünfjährigen vorzulesen, als ständig seinen, wenn auch sehr charmanten, Anweisungen Folge leisten zu müssen und dabei immer meinen eigenen kritischen inneren Beobachter niederringen zu müssen.

Ehe ich mich dessen versah, hatte er es sich schon auf meinem Schoß bequem gemacht, hatte die richtige Seite gefunden und mir das Heft mit einem „Da“ gereicht, wobei er mit seinem kleinen, weißen Finger auf die Stelle zeigte, von der an ich lesen sollte. Es war die berühmte Geschichte, die davon erzählt, wie der kleine Krishna-Knabe einen ganzen Berg mit seinem kleinen Finger hochhebt, um seine Devotees vor dem Zorn des Gottes Indra zu schützen.

Als er mir jetzt so nahe war, nahm ich einen süßen, äußerst angenehmen Duft war, der von ihm ausging, und während meine Sprechwerkzeuge halb mechanisch die Erzählung abspulten, überlegte ich, immer wieder heimlich schnuppernd, ob das jetzt sein eigener Körpergeruch oder irgend ein gelungenes Parfüm, vielleicht von seiner Mutter, war. Aber der Duft war so natürlich, so einschmeichelnd und irgendwie anders. Ich war zudem zeit meines Lebens nie ein besonderer Freund von Parfüms bei Frauen gewesen, die mir immer etwas zu künstlich und aufdringlich erschienen. Ja, es musste so sein – das war sein eigener Duft! Bei der Schilderung der Heldentat des Hindugottes klatschte unser kleiner Krishna begeistert mit seinen Patschhändchen und rief ekstatisch „Kriiishnaaaaaaaa – wir sind die Krishnas!“ „Ja, mein Kleiner, ich glaube, das sind wir“, kam es aus meinem Mund, und dabei übermannte mich eine Welle der Zärtlichkeit und ich küsste ihn auf seine samtweiche, elfenbeinweiße Wange, während ich ihn mit meiner linken Hand fest an mich drückte. Auch Anette und Herbie hatten andächtig zugehört und sich dem Zauber des Augenblickes ganz ergeben, so dass jetzt in ihren Augen so etwas wie ein verklärter Glanz aufleuchtete.

Da wurde plötzlich die Türe von draußen etwas unsanft aufgestoßen und eine überdrehte Babsi kam mitten in unsere Idylle getrampelt. „Na, hast du wieder ein paar dumme Lämmchen für deinen Krishnakram gefunden, Balarama?“ Den Gesichtern von Herbie und Anette konnte man ansehen, dass sie sich fast etwas schämten für Babsis polterndes Auftreten, und wahrscheinlich fragten sie sich, ob sie denn gar nicht wisse, was für einen besonderen Knaben sie da eben so rüde angefahren hatte. „Komm jetzt, lass die Lieben in Ruhe und mach dich fertig für den Kindergarten, ich hab dir deine Kleider aufs Bett gelegt.“ Jetzt erst fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der holde Knabe auf meinem Schoß war Babsis eigener Sohn, und er schien tatsächlich Balarama zu heißen. Zufällig wusste ich aus meiner Guru-Vergangenheit, dass das einer der Kinderfreunde Krishnas gewesen sein sollte. „Darf ich meine Krishnahose in den Kindergarten anlassen, Babsi?“ „Nein, deine Jeans liegt auf dem Bett. Beeil dich, ich hab später noch was vor.“ Dabei schielte sie aus den Augenwinkeln kaum merklich zu mir herüber, so dass die Vermutung nicht sehr ferne lag, dass ich es wohl war, mit dem sie dieses „etwas“ vorhatte.

„Wartest du auf mich, Max, ich bringe Bala nur schnell zum Kindergarten um die Ecke?“ Diese Frage erstaunte mich dann doch, ob ihrer Überflüssigkeit. Schließlich hatte ich extra wegen ihr meine Route geändert, war zum ersten Mal in Berlin und wäre mir ohne sie doch ziemlich verloren vorgekommen in diesem Moloch von Stadt. Als ich jetzt, angeregt durch diese harmlose Frage, noch mal meine Situation überdachte, kamen mir wieder massive Zweifel, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, mich von ihr „rumkriegen“ zu lassen, denn so kam es mir jetzt plötzlich vor, obwohl sie ja – objektiv gesehen, das musste ich zugeben – keinerlei Druck auf mich ausgeübt hatte? Was hatte ich mir eigentlich davon versprochen? Das, was angeblich alle Männer immer wollen? Konnte es so einfach sein? Während ich noch so vor mich hingrübelte, hatten auch Anette und Herbie die Küche verlassen, und ich fand mich jetzt ganz alleine und „wie bestellt und nicht abgeholt“ in dieser Hippieküche wieder. Da ich keinen anderen Platz in der Wohnung hatte, wo ich hätte hingehen können, und niemand es passend fand, mir mein Los als Fremder in einer fremden Stadt zu erleichtern, indem er so etwas wie „Small Talk“ mit mir anzettelte, ließ ich teils aus Langeweile, teils aus Neugierde, meinen Blick im Raum schweifen, so als könnte ich einen Hinweis finden, der mir meine merkwürdige Lage besser begreiflich machen konnte.

Da fiel mir in nächster Nähe zu dem fallenden Luzifer ein großer Rahmen auf, in dem einige Schwarzweißfotos und Zeitungsausschnitte in verschiedenen Größen verteilt waren. Ich erwartete automatisch darin Schnappschüsse der Bewohner dieser – ja was war es eigentlich? – Kommune, Wohngemeinschaft oder noch mal was anderes, in verschiedenen Situationen, mit der sattsam gewohnten aufgesetzten Fröhlichkeit zu finden, wie das in jener Zeit von ähnlichen Gemeinschaften üblich war. Aber als ich näher trat, fand ich auf den Bildern nur einen sonderbar aussehenden Mann, mal mit langen, mal mit kurzen Haaren, mal alt, mal jünger, mal feist, mal sehr mager, mal mit, mal fast ohne Zähne, mal sprechend und extrovertiert mit einer Art Trommel vor Publikum, mal versonnen und undurchsichtig von einem Stuhl aus in die Kamera guckend, aber immer denselben etwas unheimlich wirkenden Mann. Das musste „Wolfi“ sein, von dem sie dauernd redeten! Mir kam der Name plötzlich ziemlich verniedlichend vor, verglichen mit der Präsenz, die dieser Mensch da selbst noch über die Fotos ausstrahlte.

„Na, schon gespannt, was dich heute noch erwartet?“ Ich zuckte unwillkürlich zusammen bei dieser unvermuteten Ansprache hinter meinem Rücken. Romano hatte sich unbemerkt in die Küche geschlichen und grinste mich jetzt leer und mit einem schiefen Lächeln an. „Keine Ahnung, nö, ich kenn den Menschen ja gar nicht. Was ist so Besonderes an ihm?“ „Laß dich mal überraschen, Max, man kann ja durchaus geteilter Meinung über Wolfi sein. Babsi ist ja so eine Art Groupie von ihm. Mich würden dagegen keine zehn Pferde und auch keine zehn Kilo Hasch mehr hinbringen. Ich bin fertig mit ihm.“ Mein leicht verquerer Gesichtsausdruck verriet wohl, dass ich wenig Lust verspürte, jetzt nachzufragen und womöglich mich genötigt zu fühlen, irgendwie Partei pro oder contra zu beziehen, und so versuchte ich das Thema zu wechseln. „Was bedeutet das genau, dass Babsi dich vorhin als Magier bezeichnet hat? Hat sie das ernst gemeint?“ Romano schwieg daraufhin für einige Sekunden. Ich sah ihm an, dass etwas in ihm arbeitete und ihm die Antwort nicht leicht von den Lippen kam. Er wägte wohl sehr genau ab, was jetzt wohl am besten zu sagen wäre. „Nun ja, das hat sie gesagt. Sie will immer allem und jedem ein Etikett verpassen, meint sich damit in ein besseres Licht rücken zu können. Aber ja, ich hab mich mal mit Magie beschäftigt. Hast du selbst Erfahrungen damit?“ „Nein, nicht dass ich wüsste, außer, dass unser Meister mir in manchen Situationen mal wie ein Zauberer vorkam, wie er es verstanden hat, uns mit seinen Worten mit sich in eine andere Welt zu nehmen.“ Bei diesen Worten sah ich für einen kurzen Moment in seinen Augen, kaum erkennbar, so etwas wie Sehnsucht aufblitzen und gleich wieder verschwinden, als er mir betont rational antwortete: „Nein, das meine ich nicht. Ich meine echte Magie, weiße Magie.“ Sofort fiel mir ein Gespräch ein, dass ich vor einigen Jahren mit einer Lehrerin in Okkultismus geführt hatte, die mir damals sagte, dass diese sogenannte weiße Magie fast immer in graue und manchmal sogar in schwarze Magie abgleiten würde. Deshalb fragte ich Romano jetzt ganz direkt: „Was ist passiert?“ Ich sah ihm an wie es in ihm arbeitete, wie viel er von sich preisgeben sollte.

Dann, ganz zögerlich, begann er: „Nun, wie kann ich dir von etwas erzählen, das nur der versteht, der das selbst erlebt hat. Ich hab mich früh für Okkultismus interessiert und selbst angefangen, mir aus Büchern etwas über Magie und Zauberei anzulesen. Hab es auch versucht auszuprobieren, hat aber nicht geklappt. Bis ich jemanden kennengelernt hab, und der hat mir beigebracht, wie es geht.“ Er legte eine Pause ein, wie um anzudeuten, dass das jetzt alles war, was er preiszugeben gedachte, um der Sache noch mehr Gewicht zu verleihen und mich neugierig zu machen. Ich durchschaute sein Vorhaben und sagte gar nichts, schaute ihn nur interessiert und vielleicht auch etwas abschätzend an. Durch mein Nichtreagieren etwas verunsichert, erzählte er schließlich weiter:

”Ich konnte Menschen nach Belieben manipulieren, das zu tun, was ich wollte, Mädchen in mich verliebt machen und ähnliche Kindereien. Schließlich konnte ich sogar Gegenstände verrücken, und einmal ist es mir sogar gelungen, etwas aus dem Nichts zu manifestieren. Da bin ich dann selbst erschrocken.“ Ich machte immer noch auf cool, obwohl mich die letzte Aussage jetzt doch ziemlich beeindruckte. Konnte das möglich sein? Ich wusste von Yoganandas Buch „Autobiografie eines Yogi“, das ich in meiner Ashram-Zeit mit großer Begeisterung gelesen hatte, dass es solche Phänomene in Indien gab. Aber Romano? Dieser Ritter der traurigen Gestalt? Als könnte er meine Gedanken lesen, fuhr er fort: „Ich kleidete mich nur ganz in Weiß, und jeden Tag kamen die Menschen reihenweise, um in meiner Nähe sein zu können. Ich bin förmlich geschwebt, und viele sagten mir, ich hätte eine ungeheure Aura um mich gehabt und sei sehr schön gewesen. Das habe ich sogar selbst im Spiegel gesehen.“ „Und dann?“ „ Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Irgendwann hat es nicht mehr funktioniert. Vielleicht lag es tatsächlich an diesem Typen, den Babsi, wie sie es immer so macht, irgendwo aufgegabelt und mitgeschleppt hatte. Er zitierte immer aus seiner Bibel und faselte was davon, dass Gott die Zauberei verboten hätte und dass er für mich beten würde. Ja, Mann, ich glaub, ich spinne, haha, ach du meine Güte, ja kann gut sein, dass es wirklich diese Witzfigur war. Der helle Wahnsinn, so ein Scheiß.“ Er schüttelte den Kopf ruckartig, so dass seine pechschwarzen Haare herumwirbelten. ”Jedenfalls tatsächlich zu derselben Zeit, wo der Spinner dann wieder weg war, fing es an, dass mein Magnetismus nicht mehr funktionierte. Die Mädels wollten nicht mehr so einfach mit mir ins Bett wie vorher. Da fingen die Selbstzweifel an, und dann ging irgendwann gar nichts mehr. Es war wie ein Sturz ohne Fallschirm vom Empire State Building. Und der Aufprall war sehr hart, das kannst du mir glauben. Das wünsche ich wirklich keinem. Wenn man mal so eine Kraft erlebt hat, das Gefühl, ein junger Gott zu sein, und dann plötzlich – nichts mehr. Nur noch ein Schatten seiner selbst, schau mich nur an.“

Er sah in der Tat jetzt sehr deprimiert aus, und fast hätte ich auch eine Mitleidsbekundung von mir gegeben, wäre da in seinem Ton nicht dieses Etwas gewesen, hinter dem seine Angriffslust lauerte. „Du bist wohl auch so ein verkappter Sockelheiliger, was? Für solche Typen scheint Babsi ja eine Schwäche zu haben.“ Seine Augen funkelten jetzt wieder auf diese unheimliche Weise, so dass ich es vorzog, mich aus der Schusslinie zu begeben. „ O.K., ich werd‘ dann mal…“ Gerade als ich mich Richtung Küchentür bewegte und mich zu fragen begann, wohin jetzt als nächstes, hörte ich das erlösende Geräusch von Babsis Schlüssel im Schloss der Eingangstür sich drehen. Als wir uns von den entgegengesetzten Enden des Korridors jetzt aufeinander zubewegten, da wurde mir aufs neue klar, wie sehr ich mich ihr und dieser Situation ausgeliefert hatte, als ich mich kurzerhand und völlig kopflos entschieden hatte, mit nach Berlin zu kommen. Gerade als in mir die Zweifel wieder bedrohlich hochkrochen und ich mir wieder die Frage stellte, ob das eine wirklich gute Entscheidung gewesen war, sah ich ihr strahlendes Lächeln, das niemandem anderen als mir galt. „Hi Maxi, bist du klar, dann können wir jetzt zu Wolfi gehen. Er wird schon warten. Es ist nicht weit, nur ein paar Straßen von hier.“

Die Räuberhöhle

Das Haus, in dem Wolfi wohnte, hatte ich mir anders vorgestellt. Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist, aber ich mache mir oft von Menschen oder Orten, die ich noch nicht kenne, aber denen ich bald begegnen soll, ganz detaillierte Vorstellungen. Manchmal sind das richtige innere Bilder, die ich bis in die Einzelheiten beschreiben könnte. Nur dass die Wirklichkeit dann fast immer völlig anders ausschaut. Wolfis Wohnung hatte ich mir in einem gediegenen Altbau vorgestellt, mit edlen Steinvertäfelungen und künstlerischen Mosaikbildern im Eingangsbereich, sowie alten dunklen Holztreppen, mit roten Läufern darübergelegt, die mit einer goldglänzenden Metallklammer festgehalten wurden. Und nun stapfte ich in einem tristen Fünfzigerjahrebau mit einer schmutziggrauen Außenfassade die Treppen hoch, die für deutsche Verhältnisse erstaunlich dreckig waren, mit einem Geländer aus weiß lackiertem Metall, das schon lange nicht mehr weiß war und von dem überall der Lack abbröckelte. Babsi hatte einen eigenen Schlüssel für die Wohnung, an deren Eingangstüre kein Namensschild angebracht war, und als sie sie jetzt öffnete, bemerkte ich, dass mein Herz etwas schneller schlug als gewöhnlich. Ich dachte beim Hineingehen daran, dass ich mir zwar unnötigerweise Vorstellungen von dem Haus und der Wohnung gemacht hatte, aber jetzt keinerlei Ahnung hatte, was mich da hinter der nächsten Türe erwarten würde. In dem kleinen Vorraum brannte eine trübe Funzel gerade so hell, dass ich eine Garderobe mit einigen Jacken und Mänteln ausmachen konnte sowie zwei andere Türen. Es roch nach Schimmel oder vielleicht auch nur nach nasser alter Wolle.

Ich schaute unwillkürlich auf Babsis Gesicht, auf dem sich eine Mischung aus Vorfreude und Spannung abzeichnete, als sie mir die linke der beiden Türen öffnete und mich sanft mit ihrer rechten Hand über die Schwelle in einen ziemlich großen, fast komplett leeren Raum schob. Den nächsten Moment, als mein Blick zum erstenmal durch einen dicken, blauen Rauchschleier auf Wolfi traf, sehe ich noch heute in allen Einzelheiten vor meinem inneren Auge, denn er hat sich mir wie fotografisch eingeprägt. Da saß er nun, genau diagonal der Tür gegenüber, durch die ich nun eintrat, in einem Abstand von sechs oder sieben Metern, hinter einem großen Tisch mit allerlei Utensilien darauf, über dem eine nackte brennende Glühlampe herunterhing, sein Kopf deutlich nach rechts geneigt, mit dunklen, strähnigen, schulterlangen, immer noch erstaunlich schwarzen Haaren, den Mund leicht geöffnet, so dass man deutlich einige Zahnlücken sehen konnte, und einem fast ledrig anmutenden, gelb-orangen-farbigen Gesicht, das im fahlen Licht wie matt glühte. Im gleichen Augenblick, wie sich die optische Mechanik meines Sehapparates in ein erkennbares Bild in meinem Gehirn übertrug, regte sich spontan und unerwartet eine deutliche Empfindung in mir – Mitleid! Im nächsten Moment spürte ich, wie sich zwei schwarze Augen, die mir unproportional groß erschienen, wie Dolche auf mich richteten. „Hey Maxe, imma herinn in de jute Stube!“

Irgendwie waren meine Sinne auf besondere Weise geschärft, als ich mich langsam auf ihn zubewegte. Alles schien in diesem Moment wie in Zeitlupe. Ich nahm den verschlissenen Teppichboden wahr, der überall Flecken und Brandlöcher aufwies, sah den Schmutz auf der vergilbten Raufasertapete, die so aussah, als hätte sie schon Jahrzehnte keine frische Farbe mehr gesehen, und roch vor allem einen penetranten schweren Duft von süßlichem Haschisch, vermischt mit leichtem Schweißgeruch, der den ganzen Raum ausfüllte. Wolfi deutete mit der rechten Hand, an der ich noch erkennen konnte, dass ein Finger fehlte, auf den mittleren der Holzstühle, die auf der anderen Seite seines Tisches standen, während er mit der anderen Hand ein Stück schwarzen Haschischs über eine Kerzenflamme hielt und, nachdem ich mich gesetzt hatte, fortfuhr, kleine Stückchen davon abzubröseln und auf einen im Bau begriffenen Joint vor ihm auf dem Tisch fallen zu lassen. Nachdem er mir auf den ersten Blick wie eine alte Indianerfrau vorgekommen war, war ich mir jetzt bei näherer Betrachtung nicht mehr so sicher, ob er wirklich so alt war, weil er in Gegensatz zu den eingefallenen Wangen und den Zahnlücken in seinen Gesten, seiner Mimik und in seiner Stimme fast etwas Jugendliches hatte. „Ich bestehe nur noch aus Haschisch, wie de siehst, Maxe. Kennste Maxe Schmeling, hab ihn noch selbst boxen sehen im Sportpalast?“ Ich nickte nur, ziemlich verunsichert, was man auf so eine recht unpassende Ansprache antworten sollte. „Kommste aus München, hat Babsi mir schon erzählt, na, siehst ja richtig jut aus, wie der kleine Prinz von Bayern, was?“ Ich versuchte etwas gequält, zu lächeln. „Hast nen Guru und willst nach Indien, was?“ „Nein, jetzt eigentlich nicht mehr!“ „Haste Yogananda gelesen?“ Ich nickte. „Yogananda sagt immer: ,Ich will innen und aussen’.“ Darauf richtete er seinen Körper ruckartig auf und schob sein Gesicht, das jetzt wie eine Fastnachtsfratze aussah, aber wohl euphorische Erwartung meiner Antwort ausdrücken sollte, näher an mich heran: „Verstehste! Innen und aussen“ – jetzt durchbohrte er mich mit seinen beiden schwarzen Löchern und hob beide Arme mit den Haschischutensilien wie in Erwartung meiner Antwort hoch, wo sie einige Zeit starr in der Luft standen. Als von mir immer noch nichts kam, fing er noch mal an: „Nicht nur innen! Sondern auch außen. Verstehste?“

Er starrte mich weiter an, als hätte er gerade etwas Weltbewegendes gesagt und warte auf meine beipflichtende Reaktion. „Nun, das will ich eigentlich auch“, kam es nach einer Pause etwas leise und zögerlich aus mir heraus. „Siehste, das hab ich doch jewusst“, schoss es aus ihm jetzt voller Genugtuung heraus, wobei er erleichtert seine Arme sinken ließ, „du bist eben auch einer von den Neuen, die jetzt kommen. Der Maxe wird ein Juter“, richtete er sich nun, zufrieden über meine Reaktion, direkt an Babsi, die inzwischen auf einem der beiden anderen Stühle Platz genommen hatte und ihn ihrerseits freudig anstrahlte, so als wäre sie stolz auf den dicken Fisch, den sie da an Land gezogen und brav beim Oberhäuptling abgeliefert hatte. Ich konnte trotz der Skurrilität der Situation nicht umhin, mich etwas geschmeichelt zu fühlen. „Nur das richtje Haschischrauchen muss er noch lernen, damit er auch Leary verstehen kann: Turn on, tune in, drop out. Verstehste?“ Ich nickte, weil ich den Spruch natürlich x-mal gehört hatte, war mir aber jetzt plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich ihn auch richtig verstanden hatte. Wie als ob er meine Gedanken lesen könnte, schob er gleich wie ein Maschinengewehr nach. „ ,Turn on’ bedeutet natürlich Haschisch rauchen und LSD einwerfen. Mit ‚Tune in’ meint er: Hör auf die neuen Propheten wie Jimi Hendrix, Castaneda, Leary und Yogananda, komm auf ihre Wellenlänge, und ‚drop out’ bedeutet: aussteigen, mach den Spießerscheiß nicht mit, mach dein eigenes Ding, z. B. deal mit Haschisch und LSD. Der authentische, echte Dealer, der den Leuten hilft, sich jut anzutörnen, ist heute einer der ehrenwertesten Berufe überhaupt. Davon redet doch auch Leary.“ Dabei starrte er mich wieder so durchdringend an, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob das jetzt ein Hinweis für mich war, Dealer zu werden. Auch wunderte ich mich kurz, wie jetzt Yogananda in dieses Reihe passte, und wieder schien er mir direkt auf diesen Gedanken zu antworten. „Yogananda war doch selbst ein Kiffer, auf jeden Fall aber der Guru von seinem Guru, Lahiri Mahasaya, schau dir mal das Foto an, das sagt doch alles.“ Dabei zog er eine völlig verknickte Kopie eines Bildes aus dem Buch „Autobiografie“ hervor, das ich selbst noch in guter Erinnerung hatte, und reichte es mir rüber. Und in der Tat, der alte Mann da auf dem Foto hatte einen Ausdruck im Gesicht, den man auch für einen abgedrehten verkifften Sadhu hätte durchgehen lassen können, wie es sie in Indien und Nepal ja immer noch zu Zigtausenden gibt.

Inzwischen hatte er mit geschickten Fingern und unter Zuhilfenahme seiner Zunge den stattlichen Joint fertiggestellt und begann ihn eben gerade anzurauchen. Er zog mehrmals hintereinander, begleitet von einem deutlich vernehmbaren Sauggeräusch, kräftig an, so dass die Glut in dem düsteren Raum hellrot aufglomm. Danach machte er eine Pause von mehreren Sekunden, in denen er den Atem anhielt, um den Rauch in den Lungen seine Wirkung entfalten zu lassen, und dann stieß er eine ungeheure Wolke weißen Rauches wieder aus, die unsere gesamte Sitzgruppe vernebelte. Ich wartete unwillkürlich auf ein begleitendes Husten, wie es bei mir und meinen Freunden schon bei wesentlich geringeren Mengen üblich war, aber das kam nicht. Was für ein Meister seines Faches! Danach war Babsi an der Reihe, die mit der typischen Kiffertechnik – Joint zwischen kleinen Finger und Ringfinger gesteckt und mit der anderen Hand einen Hohlraum schaffend, um schließlich durch einen schmalen Schlitz zwischen den beiden ineinander verschränkten Daumen einzuziehen – und die mit der Menge Rauch, die sie ihren Lungen zumuten konnte, ebenfalls überzeugend demonstrierte, dass dahinter jahrelange Erfahrung und Gewohnheit stecken musste. Als Babsi, mit einer Lunge voll Rauch, noch den Atem anhaltend, mir stumm den Joint rüberreichte, wusste ich im Grunde schon, was jetzt kommen würde. Ich zog so vorsichtig ich konnte, spürte aber, sobald der Tabakrauch in meinen oberen Lungenbereich eindringen wollte, eine vehemente Abwehrreaktion meines Organismus gegen die körperfremde Substanz, was sich in einem langanhaltenden Hustenanfall auswirkte.

Während Wolfi mich durch einen dicken Rauchschleier noch erstaunt anstarrte, kam mir schon Babsi mit einer schwesterlichen, den Sachverhalt erklärenden, Bemerkung zu Hilfe. „Oh, hab ich ja ganz vergessen, Max raucht nur pur.“ Das hörte sich jedenfalls wesentlich besser an als „Er verträgt den Joint nicht“, und kaum hatte sie ausgesprochen, als auch schon Wolfi mit einer selbstverständlichen Geste und ohne weiteren Kommentar mir ein kleines Mini-Pfeifchen aus verziertem Messing und ein Stück Haschisch mit Feuerzeug über den Tisch schob. Ich erwärmte eine Ecke von dem fast kohlschwarzen „Piece“, zerrieb es zwischen den Fingern und stopfte es vorsichtig mit den Fingerkuppen in den Mini-Pfeifenkopf. Das ist wohl gerade eine Menge, die ich noch vertragen kann, dachte ich noch bei mir, während ich das Feuerzeug über den Pfeifenkopf hielt und vorsichtig ansaugte. Als ich merkte, dass meine Lunge keine Reaktion zeigte, wurde ich etwas mutiger und nahm einen tieferen Zug, hielt die Luft für einige Sekunden an und blies den Rauch hinaus, der in dem allegemeinen Nebel jedoch kaum zu sehen war. „Ja, unser Maxe wird ein Juter, aber richtig kiffen muss er noch lernen.“ Ich wiederholte den Vorgang mehrmals hintereinander, bis ich merkte, dass nur noch glühende Asche in meinem Pfeifchen übrig war. Zufrieden, dass ich diesmal einen Hustenanfall hatte vermeiden können, schob ich das Utensil wieder zu Wolfgang zurück, der ebenfalls eine aufgeräumte Miene machte, als er es in einem tellergroßen Aschenbecher voller Jointkippen ausklopfte. Babsi war inzwischen aufgestanden und ohne weitere Erklärung in einer Tür verschwunden, die mir bisher nicht aufgefallen war und wohl zu einem Nebenraum führte. Wolfgang beugte sich jetzt neben dem Schreibtisch hinunter, und im nächsten Moment hörte ich verhaltene Musik von irgendwoher kommen. Erst jetzt merkte ich, dass das Haschisch bereits seine Wirkung entfaltet hatte, denn meine sinnliche Wahrnehmung hatte sich zu dem typisch intensiven Musikhören verändert. Wolfgang hatte seine Augen geschlossen und sich in seinem Sessel etwas aufgerichtet. Es saß im Schneidersitz auf dem speckigen Sessel, und ich fragte mich jetzt, ob er schon die ganze Zeit so dagesessen hatte, ohne dass es mir aufgefallen war. Ohne Babsi an meiner Seite und unter der jetzt immer stärker werdenden Wirkung der Droge kam mein Unsicherheitsgefühl überfallartig zurück. Wo war ich hier gelandet, was wird jetzt von mir erwartet? Unwillkürlich schloss ich ebenfalls die Augen und versuchte, auf die Meditationstechniken zu meditieren, die ich bei meinem Guru einst gelernt hatte, hoffend, dass sie mir meinen inneren Halt zurückgeben würden.

Aber anstatt dass es dadurch besser wurde, versank ich in einen merkwürdigen Zwischenzustand. Weder konnte ich mich mit dem äußeren Szenario von Wolfgangs Reich, in dem ich mich so unvermittelt wiedergefunden hatte, noch mit der verschwimmenden gegenstandslosen Präsenz hinter meinen Augenlidern, die mich eher verunsicherte, identifizieren. Langsam fühlte ich von innen her ein Gefühl von Panik in mir aufsteigen, das zumindest den Vorteil hatte, dass ich gezwungen war, wieder mein rationales Denken einzuschalten, um mir zu überlegen, was jetzt am besten zu tun wäre, um diesem bedrohlichen Zustand zu entkommen. Da kam mir etwas Unerwartetes zu Hilfe. Aus den unsichtbaren Boxen ertönte plötzlich das Lied „You’ll never find another love like mine“ von Lou Rawls, ein Soul-Schmachtfetzen, den ich immer schon gemocht hatte. Und so, als hätte er wieder mein Inneres lesen können, stellte Wolfgang dieses Lied sofort lauter. Die vertraute Melodie mit den einschmeichelnden Textzeilen und der tiefen, beruhigenden Stimme des Sängers half mir augenblicklich, meine Fassung wiederzufinden. Die Augen aufschlagend sah ich Wolfgang wieder vor mir, immer noch mit geschlossenen Augen und in Yoga-Position, ja er schien mir jetzt noch aufrechter dazusitzen als vorher. Etwas in seinem Gesicht schlug mich in Bann. Zuerst traute ich meinen Augen kaum, was ich da sah. Aber ja, es war keine Täuschung. Vor mir spielte sich ein unglaubliches Schauspiel ab, das unser kollektives Verständnis von dreidimensionaler Wirklichkeit völlig ad absurdum führte. Ich erkannte, dass er nicht nur seinen Oberkörper und seinen Kopf noch ein Stück nach oben streckte, sondern dass durch sein Gesicht eine Art ätherischer Wellenbewegung ging, überdeutlich wahrnehmbar, wie eine in Zeitraffer aufblühende Blume. Es war ein physikalisches Wunder! Er strahlte in einem metaphysischen Licht, als sonnte er sich darin. Aber nicht nur das, ich konnte auch die Ursache dieses, die Naturgesetze auf den Kopf stellenden, Schauspiels erkennen. Es war Stolz, überbordender Narzissmus, der nicht von dieser Welt war und keiner von außen kommenden Ursache oder Bestätigung bedurfte. Die bloße, reine Selbstverliebtheit, zu der in solchem Maß ein normales menschliches Wesen gar nicht fähig ist. Ja, kein Zweifel, vor meinen Augen hatte sich soeben das Luziferische in reinster Form manifestiert!

So schnell das Phänomen gekommen war, so schnell verging es wieder. Auch das Verwelken seines Gesichtes ereignete sich wie in Zeitraffer, und nach weniger als drei Minuten war er wieder der alte Wolfi, jetzt nur noch ein armer Teufel in meinen Augen. Er hatte immer noch die Augen geschlossen, wirkte aber nun wie in sich zusammengefallen. Ich war noch damit beschäftigt, das soeben Erlebte in meinem Kopf zu ordnen, als ich mit einem weiteren unerwarteten Phänomen konfrontiert wurde. Ich konnte mich nicht mehr bewegen! Zuerst hoffte ich noch, ich würde mir das, aufgrund des Haschischrausches, vielleicht nur einbilden. Ich versuchte den Arm zu heben, den Kopf zu drehen. Vergeblich. Wolfgang saß regungslos in sich versunken. Es war klar, dass auch dieser Bann von ihm ausging, und ich dachte unwillkürlich noch an die Hexe in dem Grimmschen Märchen, die Joringel gebannt hatte. Das gab es also wirklich! Was jetzt? Ich fühlte eine Art Horror, der sich langsam in mir aufbaute, und wusste instinktiv: wenn ich mich diesem Gefühl jetzt einfach überlassen würde, es extrem unangenehm für mich werden könnte. Ein spontaner Impuls zog mich nach innen in mein Herz, und von dort sprach ich, ohne die Lippen zu benutzen und mich ganz klein machend, telepathisch zu Wolfgang: „Lass mich bitte wieder frei.“ Ein paar Sekunden verstrichen. Ich probierte vorsichtig, meine Arme zu bewegen, und erleichtert stellte ich fest, ja, es funktionierte wieder.

Wolfgang hatte jetzt seinen Blick auf mich gerichtet. Es war ein merkwürdiger leerer Blick, halb abschätzend, welchen Eindruck seine Demonstration wohl bei mir hinterlassen hatte, halb resigniert, dass der kurzen Blüte immer wieder so schnell der Verfall folgen musste. Er erhob sich jetzt schwer aus seinem Sessel, dessen ganze Schmierigkeit – wie viele Jahre mochte er bereits darin verbracht haben – dadurch für mich sichtbar wurde, und ging wortlos durch diese Tür, durch die auch Babsi vor ein paar Minuten verschwunden war. Ich vermutete, dass es sich um Wolfis Schlafzimmer handelte. Ein paar Augenblicke später kam Babsi wieder heraus, und für einen Moment durchzog mich der erschreckende Gedanke: ob sie wohl mit ihm schlafen würde? – doch sogleich entschloss ich mich aus purem Selbstschutz, diese Vorstellung zu verwerfen. Sie lächelte mich gewohnt freundlich, aber auch irgendwie unverbindlich an, und mir fiel jetzt plötzlich auf, dass es doch merkwürdig war, dass sie ausgerechnet bei Wolfis beeindruckender Demonstration seiner magischen Kräfte nicht dabei gewesen war. Wusste sie davon? Konnte das möglich sein, wo die beiden sich doch offensichtlich sehr gut kannten – aber wie konnte sie es da verantworten, alle möglichen Leute zu ihm zu schleppen? Er war ja geradezu gefährlich! Oder wendete Wolfgang sein „Können“ nur bei dicken Fischen wie mir an, um Eindruck zu schinden, oder hatte er damit womöglich noch anderes im Sinn? Ich fühlte mich jedenfalls sehr erleichtert, als Babsi, zwar wortlos, aber durch ihre Körpersprache unmissverständlich signalisierte, dass wir jetzt gehen würden.

Erst jetzt beim Hinausgehen fiel mir das Zeichen auf, das neben der Eingangstüre, schon verblasst, aber im Schimmer der fahlen Glühbirne doch deutlich zu sehen war: ein Pentagramm mit der Spitze nach unten. Das hatte ich doch schon einmal in einem Buch über Magie gesehen, bedeutete das nicht…? Oh mein Gott!

Erst als wir wieder auf der Straße waren und mir die inzwischen eingetretene Dunkelheit auf eine sehr merkwürdige und unangenehme Weise präsent erschien, merkte ich, dass die paar Züge aus der Haschpfeife und die ganze Atmosphäre bei Wolfi ihre Wirkung in meinem Gehirn hinterlassen hatten. Babsi schritt zielstrebig voraus, so als wäre sie sich ihrer Rolle als „Begleitservice in Wolfis Diensten“ sehr wohl bewusst, ich immer hinterher, nach all den massiven Eindrücken und eingedenk meines Haschischpegels im Blut froh, dass ich keine Entscheidungen treffen musste und mich einfach ihrer Führung anvertrauen konnte. Wieder krochen zweifelnde Gedanken aus meinem Inneren hervor, wie Insekten aus einem Erdspalt. Auf was zum Teufel hatte ich mich da eingelassen? Was hinderte mich jetzt daran, einfach „Adieu“ zu sagen – als mir einfiel, dass ja noch mein ganzes Gepäck in Babsis Wohnung war. Sie war jetzt vor einem Schaufenster stehengeblieben und drückte ihre Nase daran. Näherkommend erkannte ich, dass es ein Blumenladen war. Die Scheiben waren leicht angelaufen, und Babsi hatte sich schon mit ihrem Ärmel bessere Sicht verschafft. Wieder tat ich es ihr gleich und kam mir schon wie ein bekloppter „Nachmacher“ vor, als ich plötzlich voller Staunen den Grund für ihr Verhalten begriff. Die Blumen da auf der anderen Seite der Glasscheibe leuchteten, bestrahlt von ein paar windigen Glühlampen, in überirdischem Glanz, und deutlich erkannte ich jetzt ein rhythmisches Schwingen, das den ganzen Raum erfüllte. Die Farben waren so dicht, so himmlisch rein, und ich fragte mich unwillkürlich, ob das immer so gewesen war und wie es sein konnte, dass mir dies bis jetzt nicht aufgefallen war?!

Besonders stachen mir jetzt die Farbkontraste ins Auge. Hatte ich mich eine Zeit lang in das tiefe, satte Rot der einen Blume vertieft und wechselte dann in meinem Blick auf eine blaue oder violette, dann erstaunte mich die große Verschiedenheit wie ein qualitativ komplett anderes Element, wie warmes Feuer und kühles Wasser. Und diese Farbqualitäten verkündeten eine tiefe Botschaft von Wertigkeit und Wesenhaftigkeit, die zu mir sprach, aber nicht in Worte zu fassen war. Meine Augen badeten sich in diesem unerwarteten Sinnesrausch, und je intensiver ich das Geschaute aufsaugen wollte, desto mehr begannen Farben und Formen sich zu bewegen und ineinander zu verschwimmen, bis ich schließlich wie in einer kleinen Erleuchtung erkannte, dass dies alles nur solchen Eindruck auf meine Sinne und meine Seele machen konnte, weil es lebte. Ja, das Leben, das Chi oder Prana in und hinter allem, das man nicht sehen, sondern nur fühlen kann – wenn man es kann – das war das wahre und einzige Geheimnis. Und als sich Babsi schließlich wieder zum Gehen anschickte und ich mich auch etwas widerstrebend umwandte, da sah ich dieses Leben auch im Asphalt der Straße, im schmutzigen Braun der Hausfassaden, in den wundersamen Formen der Autos, die alle ein eigenes Gesicht und eine eigene Persönlichkeit hatten, und natürlich im Schein und Widerschein der schwefelgelben Straßenbeleuchtung.

Auf dem restlichen Weg zurück zu ihrer Wohnung sprachen wir kein Wort mehr miteinander, zu lastend stand das unausgesprochene Geheimnis meiner gerade gemachten Erfahrung mit Wolfgang (vielleicht wär jetzt hier der Platz, einfach mal den zweiten Namen mitzunennen: meiner gerade gemachten Erfahrung mit Wolfgang Neuss) zwischen uns. Am nächsten Morgen wachte ich früh auf, noch bevor der Morgen graute. Jetzt war mir unmittelbar und ohne Zweifel klar, dass es Zeit war zu gehen. Schnell raffte ich meine sieben Sachen zusammen und tappte, ohne das Licht anzumachen, durch die Zimmertür, auf den Flur hinaus. In einem fahlen Lichtschein, der durch eine der angrenzenden Türen fiel, konnte ich neben dem Telefon einen Stift und einen Schreibblock erkennen. Darauf schrieb ich nur: „Bin auf dem Weg nach Christiania. Danke für eure Gastfreundschaft.“ Dann schlich ich mich auf Zehenspitzen zur Wohnungstür und zog sie so leise hinter mir zu wie ein Dieb in der Nacht. In diesem Moment glaubte ich nicht, dass ich Babsi je wiedersehen würde.

Christiania

Ich wusste nicht wirklich viel über Christiania. Nur dass es eine Art Freak-Community mitten in Kopenhagen war, die der hiesigen Stadtverwaltung in der Hippieära eine gewisse Autonomie abgerungen hatte, und dass freier Drogenkonsum dazugehörte, der von der Obrigkeit mehr oder weniger geduldet wurde. (Waren wir nicht bei unserer Tramptour damals schon mal da oder bring ich da was durcheinander?) Von meiner Fahrt von Berlin nach Kopenhagen ist mir nichts Wesentliches in Erinnerung geblieben. Diese setzt erst wieder ein, als ich, bereits in Christiania angekommen, einem jungen Iren in ein baufälliges einstöckiges Gebäude in dieser merkwürdigen Aussteigersiedlung mitten in Kopenhagen folge. Ich hatte ihn auf der Straße in Englisch angesprochen, weil er einen so offenen Blick hatte, und ihn geradeheraus gefragt, ob er einen Platz für mich wüsste – und nachdem er mir kurz tief in die Augen geschaut hatte, bot er mir sofort an, dass ich bei ihm bleiben könne, so lange ich wollte, als ob dies das Selbstverständlichste der Welt wäre. Jetzt fiel mir wieder ein, dass ich unterwegs auf meinen Reisen merkwürdigerweise immer wieder Iren begegnet war, und fast jedes Mal taten sie sich durch Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit hervor.

Nun stapfte ich hinter diesem erneuten Vertreter der sagenumwobenen grünen Insel eine Holztreppe mit wackligem Geländer hoch. Er öffnete eine unverschlossene Tür, machte das Licht an und deutete mit einer einladenden Geste in den Raum, wobei er mich wieder mit diesem total offenen Blick anschaute, so als wollte er sagen: Hier kannst du es dir erst mal gemütlich machen. Soweit ich auf den ersten Blick erkennen konnte war es ein komplett fensterloser Raum, vollgepackt mit Matratzen, Decken, Fellen und orientalischen Teppichen, indischen Wandbehängen und psychedelischen Postern, wie man sie damals in fast jeder Wohngemeinschaft antraf, und den damals ebenso unvermeidlichen übereinandergestapelten Holzkisten für die Klamotten, die auch da, wo ich herkam sehr beliebt waren und in meinem Bekanntenkreis von „Freak-Stil“ zeugten. Dazwischen machte ich auf dem Teppich mehrere kleine freie Inseln zwischen den Matratzen und Fellen aus, mit gigantischen Aschenbechern und einigen Rauchutensilien, die entfernt an Chirurgenbesteck erinnerten. Neben dem Hauptlicht in Form einer nackten Glühbirne, die von der Decke baumelte, aber nicht brannte, erkannte ich einige rote, einen gelben und einen grünen Spot, die teils die Poster anstrahlten, teils ihr schummriges Licht ins Leere schickten, so dass die ganze Atmosphäre an eine Mischung aus Bar und Drogenkeller erinnerte. Aber ich registrierte auch, dass es hier trotz allem sauber und auf seine Art geordnet war.

Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Gastgeber, während ich mich noch in meiner neuen Umgebung zu orientieren versuchte, sich an einer der Inseln im Schneidersitz niedergelassen hatte und bereits emsig mit dem Bau einer Pfeife beschäftigt war, indem er aus einer schönen verzierten Specksteindose hochkonzentriert grünes Gras in ein Ehrfurcht gebietendes, tönernes Chillum stopfte. Nachdem er die letzte Verrichtung getan hatte, indem er das Gras von oben gefühlvoll mit dem Daumen zusammen gedrückt hatte, nicht zu viel und nicht zu wenig, reichte er mir mit einem leichten Lächeln die Pfeife. „Oh no, please, you first“, stammelte ich etwas verlegen, wohl ahnend, dass ich mit meinem eher ungeschulten Inhalationsvermögen nicht gerade dazu prädestiniert war, dieses verheißungsvolle Ding so anzurauchen, wie es ein „alter Hase“ wie er gewohnt sein musste. Und da fauchte er auch schon aus Leibeskräften mit kurzen, sehr kräftigen Zügen rötlich-gelb-grüne Rauchwolken in den Raum, wobei beim Einsaugen das Gras an der Spitze des Chillums immer hellrot aufglühte. Wieder reichte er es mir mit einer freundlichen Geste, und jetzt setzte ich es an meinen Mund, zuerst sehr vorsichtig ziehend, dann etwas fester, als ich bemerkte, dass es ja nur Cannabis war und kein Tabak, den ich als Nichtraucher so schlecht vertrug. Im Gegensatz zu meinem abgeklärten Gastgeber behielt ich den Rauch so lange wie möglich in der Lunge, mit aufgeblasenen Backen, was bei ihm sichtlich Heiterkeit auslöste, ehe ich den jetzt doch leicht beißenden Rauch begleitet von einigen Hüstern wieder ausblies. Bevor ich mich so recht an diese neue Zweisamkeit gewöhnen konnte, war mein irischer Wohltäter schon wieder aufgesprungen, hatte mir einen Schlüssel in die Hand gedrückt, „Close the door, when you leave, and put it under the map“ (map?? mat??) gesagt und mir dabei ganz tief in die Augen geschaut, so als wollte er mir damit zeigen, dass er mir sein Vertrauen schenkte, und war auch schon wieder verschwunden, beim Hinausgehen die schwere Spanplattentür mit einem kernigen Krachen hinter sich zuschlagend.

Mechanisch sog ich noch einmal kurz an der Pfeife, legte sie aber dann auf einen der Aschenbecher und wunderte mich erst mal über die Skurrilität der Situation. Hier war ich nun, ein Fremder; gerade erst in Kopenhagen angekommen, hatte ich mich nach Christiania durchgefragt und war innerhalb einer knappen halben Stunde in diesem Raum gelandet, mit einem Schlüssel in der Hand und der beruhigenden Erlaubnis, erst mal ein schützendes, nicht unwirtliches Dach über dem Kopf zu haben. Jetzt, wo ich noch mal darüber nachdachte, hatte das Ganze tatsächlich etwas von einer Art Fernsteuerung, die sich aber keineswegs unheimlich, sondern recht angenehm anfühlte. Wieder war ich bereit mich ganz meinem Schicksal und der Magie des Augenblicks hinzugeben, aber diesmal nicht wie bei Babsi unter Furcht und Zittern, sondern mit einem fast wohligen Gefühl von Einverständnis.

Die Spots gaben ein schwaches Licht ab, aber hell genug, dass ich mich jetzt mit einigen Details beschäftigen konnte, die mir bei meinen ersten Orientierungsversuchen nicht aufgefallen waren. An der entfernten Wand, im Halbdunkel, machte ich jetzt einen Heizstrahler aus, der den Raum notdürftig erwärmte, und paradoxerweise fiel mir erst jetzt auf, dass der Raum ziemlich kalt war. Ich war gut beraten, meinen grau-beigen Indioponcho, den ich seit meiner Abfahrt von Berlin übergeworfen hatte, erst mal nicht abzulegen. Jetzt sah ich auch einige Bücher herumliegen, bei näherer Betrachtung alles im weitesten Sinne spirituelle Werke, wie sie auch in unseren Kreisen verbreitet und mir von daher alle in den Titeln und teilweise vom Inhalt her bereits vertraut waren: Yoganandas „Autobiographie eines Yogi“ oder Baba Ram Dass´es extravagant gestaltetes „Be here now“ sowie das „Tibetanische Totenbuch“ mit Kommentaren von Timothy Leary, alles absolut angesagte Bücher in jener Zeit, die man in fast jeder alternativen Wohngemeinschaft vorfand. Ich sah auch die Bagavad Gita in original Sanskrit mit englischer Übersetzung, was mich schwer beeindruckte, und eine Taschenbuchausgabe des I Ging, die gerade bei dem Zeichen „Das Schöpferische“ aufgeschlagen war.

Darüber hinaus fielen mir einige Bildbände von verschiedenen Ländern auf, und besonders zog ein Buch meine Aufmerksamkeit an, das aufgeschlagen auf einem dieser kleinen verzierten indischen Holztischchen lag. Bei näherem Hinsehen sah ich, dass es sich um einen Bildband über die antiken Stätten Persiens handelte. Etwas darin kam mir merkwürdig vertraut vor, fast wie ein „Déja-Vu“, und ich hatte die deutliche Empfindung, als hätte es eine höhere Fügung genau so für mich hingelegt. Konnte es sein, dass dieses Land in früheren Leben meine Heimat gewesen war?, ging es mir durch den Kopf. Und war es eine Aufforderung des Schicksals, nun womöglich in Bälde dorthin zu reisen? Nun fiel mir auch ein, dass ich in meiner Kindheit und Adoleszenz einen besten Freund hatte, Kasra, Sohn eines persischen Diplomaten, der mir voll Begeisterung und einer gehörigen Portion Großspurigkeit kitschige Comics in persischer Sprache zeigte, die von den Heldentaten der glorreichen persischen Armee in den Kriegen gegen die antiken Griechen handelte.

Beim Weiterblättern blieb meine Aufmerksamkeit bei der Abbildung eines Mausoleums hängen, das nicht in der Antike erbaut wurde, sondern eindeutig jüngeren Datums sein musste, denn die innenliegende, von Säulen getragene Kuppel hatte die typisch entzückenden muslimischen Mosaikverzierungen, eine

türkisene Mischung aus Blüten, Mandalas und Sternen. Erst jetzt fiel mir auf, dass das Buch in Deutsch war – wie seltsam. Dadurch verstärkte sich nur noch mein Eindruck, dass das Ganze hier für mich von höherer Hand arrangiert war. Ich las als Unterschrift: „Grabstätte von Hafiz“. Es sollten Jahrzehnte vergehen, bis Hafiz mir bewusst als Sufi-Mystiker wieder begegnen sollte, ich mich begeistert in seine Dichtung vertiefte und er zu meinem Lieblingsdichter und Bruder im Geiste wurde.

Ich blätterte weiter, und da war auch ein Gedicht von ihm abgedruckt. Ich begann zu lesen, und wie ich so Zeile für Zeile verinnerlichte, da war es, als wäre ich in eine andere Welt enthoben. Ein zutiefst vertrautes Gefühl bemächtigte sich meiner, wie die Erinnerung an eine ferne Zeit im Kreise gleich gesinnter Brüder, verbunden durch die Gottesliebe in einem ewigen Band. Ja, was sonst war eigentlich zu tun, als dieses Geschenk so oft wie nur möglich zu feiern mit Gesang, Wein und Rezitationen, bis sich alles verklären würde, inniger Ausfluss von Gottes Liebegeist, imprägniert in alles, was unsere Augen berührten. Bis schließlich um uns her alles nur noch „Mater“, atmendes, mildes, mütterliches Sein würde. Ich las:

Dring, oh Jünger, unverdrossen,
in des Wissens Werte ein –
Nur auf Pfaden, selbst erschlossen,
kannst du andern Führer sein –

Dort, wo in der Wahrheit Hallen
als Berater Liebe lehrt,
Bis der Schüler einst von allen
als ein Vater wird verehrt.

Zu dem höchsten Ziel gelange,
niedern Trieben abgewandt;
ist um Brot und Schlaf dir bange,
hast du Liebe nie gekannt.

Wenn der Gottesminne Wonne
Herz und Seele dir erfüllt,
Ist’s, als ob im Glanz der Sonne
aller Welten Sein enthüllt.

Wasch den Körper von der Erde
gleich dem Wanderderwisch rein,
Durch den Stein der Weisen werde
wie des Goldes lautrer Schein.

Mit der Schar der Gottvertrauten
leuchte dir das ew’ge Licht
Der Verklärten, die erschauten
hier der Gottheit Angesicht.

Die Offenbarung

Diese Worte und dieser ganze magische Moment war wie eine stille Erweckung für mich, ja mehr noch, eine Berufung. Jetzt fiel mir auf, wie eigenartig still es hier drinnen und auch draußen war, nur ein feiner heller Ton in meinen Ohren war zu hören, der aber aus mir selbst zu kommen schien. Und da spürte ich plötzlich eine Präsenz, die deutliche Gegenwart eines höheren Bewusstseins, und sanft, aber ganz deutlich, die Aufforderung von innen, Worte niederzuschreiben. Wie automatisch fiel mein Blick auf einen karierten Schreibblock, der aufgeschlagen nicht weit von mir auf dem Boden lag, mit einem Stift gleich daneben. Mechanisch griff ich nach beidem, konnte mich gerade noch in eine halbwegs angenehme Position bringen, da fing es an. Ganz deutlich formten sich Worte und Sätze in meinem Kopf, die ich sogleich niederschrieb, immer einen nach dem anderen, für jeden Satz eine eigene Seite gebrauchend:

Seine Leiden opfern ist sterben! Es ist die einfachste Sache der Welt.

 Das Leid ist Freude!

 Diese Welt ist nicht real!

 Es gibt keine Hölle! Nur Zweifel ist die Hölle!

 Ich muß nur glauben. Es ist die einfachste Sache der Welt!

 Ewigkeit ist keine unendlich lange Zeit! – Ewigkeit ist Augenblick.

 Jede Minute meines Lebens komme ich meinem Glück näher!

 Meine einzige Verantwortung ist, glücklich zu sein!

 WU-WEI – das Nichthandeln ist höchster Friede!

 Dankbarkeit ist das höchste Gefühl!

 Ich bin! Dies ist der Christus in mir oder das Christusbewusstsein.

 Christus hilft, indem er strahlt!

 Jesus hilft mir, wenn ich mich ihm öffne wie die Blumen der Sonne!

 Jesus ist höchster Herrscher und größter Diener!

 Jesus hat nie gelitten!

 Die Sonne schmilzt milde das Eis! (von Jesus)

 Bete nur um Erkenntnis, um nichts sonst!

 Die Welt ist ein Rätsel, das letzte Geheimnis ist nur in der Liebe zu finden!

 Bildimagination: Eine weiße und eine schwarze Schlange, die sich kreisförmig gegenseitig in den Schwanz beißen als Symbol der Erlösung.

Gleichzeitig mit den Sätzen erfuhr ich auf telepathische Weise, dass ein Sinnspruch auf dem anderen aufbaute, wie wenn man eine Zwiebel Schicht für Schicht abschält, bis man zum innersten Kern vordringt, und mir wurde dabei auch geistig vermittelt, dass diese Sätze als Richtigstellung gedacht waren, in Bezug auf all die Irrtümer, die sich im Laufe der Jahrtausende über den wahren Geist der christlichen Botschaft gelegt und so die ursprüngliche Frohbotschaft in vielen Teilen in das genaue Gegenteil verkehrt hatten. Und noch ein inneres Bild wurde mir zuteil, das eines hohen Berges über einem Abgrund, und mir wurde gezeigt, dass dies ein Gleichnis für mich selbst wäre. Dabei spürte ich das Bedrohliche des Abgrundes, erkannte aber gleichzeitig, dass genau dies es auch war, was den Berg ja noch höher und steiler machte.

So außergewöhnlich und neu diese Situation für mich war, so hatte sie doch auch etwas Selbstverständliches, Vertrautes an sich. Ich dachte bei mir, vielleicht könnte ich dieser verborgenen Stimme auch Fragen stellen, und da fiel mir als erstes der vorwitzige Gedanke ein, ob ich denn auch einen geistigen Namen hätte – weil ich gelesen hatte, dass dieser dem Jünger zu einem bestimmten Punkt offenbart werden würde. Ich brachte mich mit meinem Stift in Position und hörte tatsächlich etwas. Ganz eindeutig erschienen da die Worte „Maxi Meundegenner“, die ich auch sogleich eifrig aufs Papier brachte. Und obwohl mir der letzte Name phonetisch eigentlich gänzlich unbekannt war, war mir dennoch die Bedeutung plötzlich klar. Der „Nicht-Kost-Verächter“, übersetzt so etwas wie „der, der gerne isst“. Ich spürte, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg, und hatte gleichzeitig das deutliche Gefühl, als würde sich da jemand auf wohlwollende Weise über mich lustig machen. Die Botschaft war klar, keine vorwitzigen Fragen! Mir fiel unwillkürlich eine Passage aus dem I-Ging-Zeichen „Die Jugendtorheit“ ein, welches ich im Laufe meines bisherigen Lebens schon einige Male geworfen hatte: „Beim ersten Orakel gebe ich Auskunft. Fragt er zwei-, dreimal, so ist das Belästigung. Wenn er belästigt, so gebe ich keine Auskunft. Fördernd ist Beharrlichkeit.“

 Wow, habe ich das tatsächlich gerade erlebt? Ich überflog noch einmal die Sätze, die ich eben empfangen hatte. „Meine einzige Verantwortung ist, glücklich zu sein!“ Konnte das wirklich wahr sein, so einfach? Aber ich begriff auch, dass diese Botschaften aus einer anderen Sphäre kamen und damit eine andere, tiefere Wahrheit darstellten als die uns scheinbar so vertraute logische Schulweisheit. Beinhaltete nicht auch die Bibel in ihrem Kern diese höhere, oft paradoxe Wahrheit? Während ich so darüber nachsann, meldete sich ganz deutlich wieder diese innere Stimme und antwortete mir telepathisch: „Dies ist die höchste Einsicht, die Ich zu allen Zeiten immer wieder einzelnen Menschen offenbart habe. Du findest Teile davon in allen Offenbarungsschriften.“ In diesem Moment wurde meine Aufmerksamkeit wieder auf das aufgeschlagene I Ging gerichtet, und plötzlich verstand ich den Satz „Das Schöpferische wirkt erhabenes Gelingen“, den ich schon so oft gelesen hatte, auf viel tiefere Weise als bisher. So war ja der letztliche Sieg des Lichtes gegen die Dunkelheit in dieser Welt und in uns bereits geistige Tatsache, und wir dürfen dies im Glauben annehmen und uns darüber von Herzen freuen: „Deine einzige Verantwortung ist, glücklich zu sein!“ Ja, genau! Danke, lieber Gott!

Das magische Theater

 Erst jetzt wallte diese Freude in meinem Inneren so recht spürbar auf, und ich fühlte eine Welle des Glücks durch mich hindurchwogen, die mich wie ein kleines Schiffchen mit sich trug. Und plötzlich zog es mich weg von diesem Ort hier, der mir Fremdem auf so freundliche Weise Unterschlupf gewährt hatte, aber doch auch etwas von einer weltabgewandten Einsiedelei an sich hatte, hinaus zu den Menschen, die ich bis dato seit meiner Ankunft kaum wahrgenommen hatte. Schnell verstaute ich die für mich jetzt so kostbaren Blätter in der Seitentasche meines Rucksackes, griff nach dem Schlüssel in meiner Hosentasche, und gerade als ich dabei war, die Tür nach draußen zu öffnen, fiel mein Blick auf ein Poster an der Wand, das ich bis dahin übersehen hatte. Beim näheren Hinschauen erkannte ich es als das Gemälde von Hieronymus Bosch „Christus trägt das Kreuz“, das ich oberflächlich von irgendwoher kannte. Aber erst jetzt in meiner erhöhten Aufmerksamkeit sah ich, dass darin ein Geheimnis verborgen war, das sich erst bei näherer Betrachtung erschloss, eine Art geheimer Botschaft, die der Künstler hineingelegt hatte. Ich wollte es mir genauer anschauen und fand einen zusätzlichen Lichtschalter neben der Tür, den ich betätigte und der jene nackte Glühbirne in der Mitte des Raumes aufleuchten ließ, so dass ich die Details auf dem Bild besser erkennen konnte. Ja wirklich, ich sah es, und dieses Sehen war wie eine kleine Offenbarung: Jesus, der sein Kreuz inmitten einer Horde von geifernden, abstoßenden Menschenfratzen trägt, bleibt selbst dabei völlig entrückt! Sein göttlich entspanntes Gesicht erinnert dabei an den friedlichen Ausdruck eines meditierenden Buddhas und leuchtet sanft und still aus sich selbst heraus. Es ist dabei genau im Zentrum des Bildes, und obwohl sich alles um Christus als zentrale Person zu drehen scheint, ist keiner von den Menschen um ihn herum auf ihn bezogen, alle sind in ihrer eigenen abgründigen Innenwelt mit sich selbst beschäftigt. Selbst die heilige Veronika, die sein Bild auf dem Schweißtuch vor sich herträgt, wendet sich in die entgegengesetzte Richtung und scheint mehr auf sein Bild ausgerichtet als auf den lebendigen Erlöser hinter ihr. Aber das Bild bedeutete ja in diesem Moment für mich persönlich noch mehr. Es war wie eine magische Bestätigung von Jesus Christus selbst für die Offenbarung, die ich gerade von ihm bekommen hatte: „Jesus (der Christus) hat nie gelitten!“ Wie falsch war also diese ganze Leidensmystik, die besonders die katholische Kirche über Jahrtausende gepflegt hat, und was für eine gigantische Verzerrung seiner Botschaft, die doch in erster Linie eine Botschaft der Freude ist: Christus ist auferstanden, und er ist auch jetzt mitten unter uns! „Ich bin bei euch bis an der Welt Ende.“ Ich musste jetzt daran denken, wie wenig wir Menschen oft sehen, was doch so nahe liegt, und wie leicht es war, sich solch ein Meisterwerk anzuschauen und dabei doch das Wesentliche zu übersehen. Zufrieden nach dieser erneuten Begegnung mit dem Wunderbaren tastete ich nach den Lichtschaltern und mit ihrem Ausknipsen zog ich die leicht verzogene Spanplattentüre hinter mir zu, schloss ab und legte den Schlüssel unter die Matte, wie es mir von meinem Herbergsvater aufgetragen worden war.

 

Als ich in die kalte Winternacht hinaustrat, war ich in einer seltsamen, irgendwie neuartigen Gemütsverfassung. Einerseits spürte ich plötzlich an der veränderten Wahrnehmung deutlich die Wirkung des Grases und des heiligen Geistes, wobei ich das eine nicht mehr von dem anderen unterscheiden konnte, und andererseits empfand ich eine aufregende Mischung aus neuer Freiheit und gespannter Erwartung, was jetzt wohl als nächstes kommen würde. Alles war möglich! Es kam mir unter meinem erhöhten Bewusstseinszustand so vor, als wäre die Nacht viel dichter und dunkler als ich sie gewöhnlich wahrnahm. War das immer schon so gewesen und meine normale Wahrnehmung einfach zu abgestumpft? Ich verstand plötzlich, dass Nacht auf unsere Vorfahren, die noch kein elektrisches Licht hatten, wohl eine ganz andere, viel unmittelbarere Wirkung ausgeübt haben musste, eine ehrfurchtgebietende Abwesenheit des Lebenselixiers Licht – damals ein Synonym für die Gottheit – als eine täglich wiederkehrende stille Mahnung und Erinnerung an unsere Sterblichkeit.

Die Gasse, auf die ich hinausgetreten war, war ungeteert, kaum beleuchtet, und für einen Moment hatte ich das seltsame Gefühl, in einem „Shtetl“ des Ostjudentums zu sein, von dem ich in einigen Büchern gelesen hatte, und die mir immer auf merkwürdige Weise vertraut vorkamen. Auch der Geruch war undefinierbar wohlig und irgendwie altertümlich, ganz verschieden von dem unserer deutschen Großstädte. Durch die kaum vorhandene künstliche Beleuchtung bekam der wolkenlose Sternenhimmel eine ehrfurchtgebietende Präsenz, und der große Wagen, der direkt schräg über mir leuchtete und funkelte, war wie ein Wegweiser, der mich freundlich aufzufordern schien, mich getrost seiner Führung zu überlassen. Und so ging ich denn wie der „Hans im Glück“, „immer meiner Nase nach“, einmal um diese Ecke nach rechts, dann bei der nächsten Kreuzung nach links, geradeso wie mir danach war, aber immer mit dem unbestimmten Gefühl, als zöge mich etwas unmerklich in eine ganz bestimmte Richtung. Hin und wieder begegnete ich einigen Gestalten, die meistens alleine unterwegs waren, jüngeren und älteren, alle aber in den typischen nachlässigen Klamotten, so wie man es in einer alternativen Kommunität nicht anders erwarten würde, manche sichtlich betrunken – oder vielleicht doch nur zugedröhnt? Zuweilen hatte man in einer Tonne oder auf einem viereckigen metallenen Gestell Holzfeuer errichtet, um die sich kleine Grüppchen geschart hatten und händereibend wärmten. Markante Gesichter wurden durch den Feuerschein erleuchtet, und ich sah in ihren teils tiefen Rillen und Furchen, dass auch ein solches Kommuneleben, ja vielleicht gerade dieses, weniger Sorglosigkeit und Unbeschwertheit als wohl vielmehr auch täglichen Kampf ums Dasein und ein gerüttelt Maß Erdenschwere bedeutete. Es wurde wenig und eher abgedämpft gesprochen, hier und da zupfte einer auf einer Gitarre herum.

Gut, dass meine Grundstimmung nach meiner kosmischen Erfahrung, die immer noch so lebendig in mir nachklang, anhaltend euphorisch war, sonst hätte sich wohl die nackte Nüchternheit dieser Kommunerealität drückend auf meine Gefühlslage ausgewirkt. Aber so schritt ich zügig an den versprengten Grüppchen vorbei und gelassen immer weiter, in dem sicheren Gefühl, dass diese trüben Schnappschüsse der Wirklichkeit nicht mich meinten, und spürte dabei in mir eine unbestimmte Ahnung, dass dieser Abend noch irgend etwas Besonderes für mich bereithalten würde. Nicht lange danach hörte ich von Ferne einen rhythmischen Bass schlagen, dem ich augenblicklich folgte, bis er immer näher kam. Schließlich stand ich vor einem langgezogenen Holzgebäude, von außen einem Heustadel ähnelnd, und es war klar, dass der Bass und jetzt auch gut vernehmbar eine dazugehörende einschmeichelnde Melodie von unmittelbar hinter seinen grauen, ausgeblichenen Holzwänden kamen. Ich suchte den Eingang und konnte ihn eine Weile nicht finden, bis ich schließlich auf der gegenüberliegenden Gebäudeseite ankam, wo eine unscheinbare Holztür eingelassen war. Ich drückte vorsichtig die Klinke, irgendwie jetzt plötzlich aufgeregt, so als würde ich etwas Verbotenes tun und unbewusst erwarten, dass sie abgeschlossen sein würde. Aber zu meiner Überraschung ließ sie sich leicht öffnen, und voll gespannter Erwartung trat ich auf leisen Sohlen über die Schwelle, vorsichtig die Tür hinter mir wieder zuziehend. Es dauerte eine Weile, bis meine Augen sich so weit an die neue Umgebung gewöhnt hatten, dass die Bilder und Töne, die ich dann wahrnehmen konnte, einen Sinn für mich ergaben.

Ungefähr fünfzig Meter vor mir war eine grellbunt erleuchtete Bühne, auf der sich eine Art Tanztheater und Singspiel zutrug. Dazwischen sah ich auf die dunklen Köpfe und Rücken einiger hundert Menschen; keiner von ihnen drehte sich nach mir um oder hatte überhaupt mein Kommen bemerkt. Ganz in meiner Nähe sah ich jetzt eine Treppe, die nach oben, vielleicht auch auf eine Galerie führte, und ich nutzte die Gelegenheit, um einige Stufen höher zu kommen und so eine bessere Sicht auf die Bühne zu haben. Auf der von vielen weißen und bunten Scheinwerfern gleißend hell erleuchteten Bühne bot sich meinen Augen ein erstaunliches Spektakel dar. Dutzende von Figuren sprangen ekstatisch durcheinander, bildeten für kurze Zeit Formationen, die sich sogleich wieder in einem Chaos auflösten. Dazwischen liefen Fabeltiere herum, ein weißes Einhorn, ein mächtiger Löwe, ein langer silbrig roter Drachen, die sich bekämpften und überall bereits grell blutrote Wunden hatten. Die Musik war jetzt wild und atonal, von pochenden, stakkatoartigen Rhythmen untermalt. Jetzt sah ich einen anderen blauschwarzen Drachen aus der Kulisse hervorkommen, der den ersten Drachen feuerspeiend angriff und seine stilisierten Zähne tief in den Hals des anderen schlug, worauf augenblicklich in Strömen dunkelrotes Kunstblut an dessen Hals herunterlief. Die grellbunten Menschenfiguren drumherum stoben mit Schreckensschreien auseinander und verbargen sich hinter Hügeln aus Schaumgummi und Strohballen. Plötzlich wurde es für einen Moment vollkommen dunkel, während einige grelle Blitze in weiß und gelb aufleuchteten und einen gruseligen Widerschein zuckend auf die Decke und die Wände des Zuschauerraumes warfen, und gleichzeitig ein ungeheuer lauter dumpfer Knall ertönte, der mir unwillkürlich die Arme nach oben riss, um meine Hände schützend über die Ohren zu legen, und der mich innerlich bis in die Glieder erschütterte.

Dann blitzten für einige Sekunden stroboskopische Lichtsequenzen auf, welche die aufgescheuchten Körper auf der Bühne in erschreckten Posen bannten, sich in Todeskämpfen windend, bis sie langsam in sich zusammenfielen und schließlich alle Menschen und Ungeheuer über- und nebeneinander wie tot auf dem Boden lagen. Dann wurde es dunkel im Raum, und auch die schrille, aufpeitschende Musik verlosch. Vollkommene Finsternis und Stille breitete sich um uns her aus! Alle im Raum schienen vor Ehrfurcht und Überraschung wie erstarrt, so dass sich für einen ewig langen Augenblick nicht der geringste Sinneseindruck mitteilte, nicht mal ein Schnaufen oder Rascheln aus dem Publikum war zu hören. Immer noch unter der Wirkung der Droge stehend, hatte ich für schauerlich endlos lange Momente das Empfinden, in eine Art von anderer Wirklichkeit eingetreten zu sein, und gerade als die ersten spürbaren Anzeichen eines unnennbaren Grauens in mir hochzusteigen drohten, nahmen meine Augen ein zuerst kaum merkliches, dumpfes Leuchten war, das aber langsam und deutlich immer heller wurde und durch seine frische und doch warme Farbe sogleich die Assoziation eines morgendlichen Sonnenaufganges hervorrief. Es war, das war mir natürlich sofort klar, nichts weiter als hoch gedimmtes, elektrisches Licht, durch einige Scheinwerfer mit orangen und roten Filtern gekonnt auf Wand und Decke ausgerichtet, und doch hatte es auf den Betrachter eine erstaunliche Wirkung. Die eben noch zum Schneiden präsente Bedrohungsenergie im Raum wich einer allgemein spürbaren Erleichterung, und für einige kostbare Augenblicke verschmolzen die vielen einzelnen Zuschauer im Saal wie zu einem einzigen großen Menschen, wie die Zellen eines Organismus, die alle gleichzeitig und auf gleiche Weise dieses erhebende Erlebnis von Einheit hatten. Und der zuerst rein optische Effekt eines heller werdenden Lichtes bekam mehr und mehr die Atmosphäre von Erlösung, wurde zum visuellen Ausdruck einer fühlbaren Qualität, wie das Heraufdämmern eines neuen Zeitalters. Dazu setzte jetzt passend die bekannte Melodie aus dem Musical „Hair“ ein: „When the moon is in the seventh house / and Jupiter aligns with Mars / Then peace will guide the planets / and love will steer the stars. / This is the dawning of the Age of Aquarius, the Age of Aquarius, Aquarius…“

 Gänsehaut-Schauer durchliefen jetzt meinen ganzen Körper von oben bis unten und ich starrte mit weit aufgerissenen Augen auf dieses unglaubliche Spektakel, was sich da vor meiner Nase abspielte. Die Figuren hatten sich inzwischen wieder vom Boden erhoben und bildeten nun ganz würdig eine geordnete Formation von menschlichen Körpern und Fabelwesen, die sich in einem stattlichen Triumphzug langsam von der Bühne herunter in weiten Bögen durch die Reihen der Zuschauer bewegte. Schließlich kamen sie auch in meiner Nähe vorbei und ich konnte direkt in ihre Gesichter sehen und deutlich spüren, dass einige von ihnen mich auf meiner Balustrade bewusst wahrnahmen und mir offen in die Augen schauten, sodass ich erkennen konnte, dass sie nicht einfach nur die ihnen zugeteilten Rollen gekonnt spielten, sondern selbst in dieser seligen Trance einer transzendenten Einheitserfahrung sein mussten. Sie fühlten das Gleiche wie ich auch! Was für ein erhabenes Gefühl, ganz für sich allein und gleichzeitig ein vibrierender Teil eines großen Ganzen zu sein: „Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium… Alle Menschen werden Brüder“ poppte es nicht ganz passend in meinem Kopf hoch, was ich schnell wieder wegwischte, weil die Wirklichkeit um mich her so viel aufregender und vibrierender als der erhabenste Gedanke war.

Der Zug führte irgendwann auf die Bühne zurück und löste sich dort in einem Schlussbild auf, bei dem sich alle Teilnehmer in einigen verschieden großen Halbkreisen aufstellten, sich an den Händen fassten, und gemeinsam mit einem langgedehnten „Om“ gemeinsam die Arme hebend, in einer huldigenden Geste das Publikum gleichzeitig grüßten und verabschiedeten. Zurückhaltender Beifall und gedämpfte Rufe kamen ihnen aus dem Zuschauerraum, der immer noch fast gänzlich im Dunklen lag, entgegen. Dann wurde das Licht auf der Bühne heruntergedimmt, so dass es wieder fast ganz dunkel wurde im Saal, und im Nu waren alle Akteure hinter der Bühne verschwunden, während mit einiger Verzögerung das Saallicht, eine erkleckliche Anzahl von nackten weißen Leuchtstoffröhren, brutal hell ansprang. „Willkommen zurück in der Realität!“ kommentierte die bekannte lästige Stimme in meinem Oberstübchen. Es fühlte sich ein wenig an, als würde eine große bunte Seifenblase gerade vor der eigenen Nase zerplatzen. Ich verstand es als Wink, um mich hier nicht länger als nötig aufzuhalten und so schnell ich konnte, mich wieder in die kalte Nacht von Christiania, mit ihrem immerhin bergenden Sternenhimmel, zu begeben. Die anderen Zuschauer um mich herum, die ebenfalls inzwischen den Weg ins Freie gefunden hatten, waren ungewöhnlich still, wohl genauso wie ich immer noch ganz unter dem Banne des soeben Erlebten.

Meine Güte, was war das denn eben? Ich versuchte mich nach dieser Berg-und-Talfahrt einer doppelten Überschwemmung der Sinne und des dazwischen wiederkehrenden gesunden Menschenverstandes so weit es möglich war zu sammeln, meine Eindrücke und Gedanken zu ordnen, und lenkte mechanisch meine Schritte ungefähr in die Richtung, von der ich annahm, dass ich von dort gekommen war. Sollte ich mich jetzt gleich wieder in den relativen Schutz meiner Herberge verkriechen oder mich lieber unter die Menschen begeben und damit an die Botschaft des magischen Theaters „Alle Menschen werden Brüder“ anknüpfen? Meine menschliche Seite sehnte sich jetzt nach Gesellschaft, das war nicht zu leugnen, aber ich erinnerte mich auch sogleich an meine nur zu oft gemachten Erfahrungen, dass man Sternstunden nicht festhalten kann, dass menschliche Nähe, besonders als Fremder, gewollt herzustellen meist nicht funktioniert, und dass nach jedem Hoch auf dieser Erde die ernüchternde Realität der Gravitation unausweichlich folgen muss wie ein Echo, und so entschied ich mich für den Rückweg in mein mythisches Gastzimmer. Es war wohl sowieso besser, der Seele die Möglichkeit zu geben, solch tiefgreifenden Erfahrungen zu verdauen und in der Stille ausklingen zu lassen. Und so blieb in mir eine stille Freude und Dankbarkeit zurück, dass die Götter mich einer solchen Erfahrung und Botschaft für würdig erachteten. Ich versuchte, während ich ging, die Sätze, die mir zugekommen waren, in meinem Gedächtnis noch einmal lebendig werden zu lassen. „Deine Verantwortung ist es, glücklich zu sein?!“ Ja, so hieß wohl einer davon, nein, da fehlt doch noch was. „Deine“… nein „Meine einzige Verantwortung ist es, glücklich zu sein!“ Ja, genau: „Meine einzige Verantwortung ist es, glücklich zu sein!“ Wow, wie schön. Ich fühlte wie ein kleines bisschen mehr von diesem Glück sofort, indem ich diesen Saatgedanken bewusst in meinem Inneren bewegte,  ihn in meiner Seele für mich spürbar werden ließ. „Sie funktionieren ja ganz praktisch auch für mich“, dachte ich noch erfreut bei mir, als ich bemerkte, dass mir die Gasse irgendwie vertraut vorkam, meine Schritte mich unbemerkt, während ich im Nachsinnen gewesen war, gelenkt hatten, und ich nach wenigen Metern schon wieder bei meiner Unterkunft angelangt war. Vor der etwas verzogenen Haustür wendete ich mich noch einmal zum Himmel hoch und staunte über die ungeheure Zahl von Sternen, die heute nacht sichtbar waren. Und sie erschienen mir diesmal nicht, wie sonst so oft, wie kalte Zeugnisse einer unergründlichen, bedrohlichen Realität da weit, weit draußen, sondern waren mir jetzt wie liebevolle Zeugen, die an meinem göttlichen Anruf teilnahmen und mir wohlwollend und freundlich zublinkten.

An das, was sonst noch an diesem fremden Ort passierte, erinnere ich mich nicht mehr, außer, dass er mit seinem alternativen Anspruch doch insgesamt eher eine riesengroße Enttäuschung war. Viele Betrunkene, Drogenabhängige und Gestrandete säumten die Gassen, und deshalb entschied ich mich bereits am nächsten Tag, wieder meine Rückreise anzutreten, in dem beruhigenden und erhebenden Gefühl, meine Mission mit Christiania über alle Erwartungen hinaus erfüllt zu haben. (meine MISSION? wär’s nicht eher sowas wie: …in Christiania mehr gefunden zu haben als ich mir erträumt hatte… ) Mein Ziel war wieder Berlin, so als würde ich bereits ahnen, dass etwas sehr Wichtiges mit mir und dieser Stadt noch unerledigt geblieben war.

Berlin, die zweite

Merkwürdigerweise zog es mich, nach einer knappen Tagesreise per Anhalter wieder in einem trüben, unwirtlichen Berlin angekommen, nicht zu Babsi und ihrer spätpubertären Kommune, sondern geradewegs wieder in die Wolfshöhle. Und wenn ich später immer wieder einmal über diesen unterschwelligen Sog, den Wolfi auf mich ausübte, nachdachte, fiel mir in diesem Zusammenhang immer wieder einmal das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf ein. Hatte ich mich nicht selbst, in einem Alter, in dem man anfängt, über die Logik solcher Geschichten nachzudenken, über deren kindliche Naivität gewundert? Immerhin dürfte es einem Wolf einigermaßen schwer fallen, seine Gefährlichkeit, die ihm ja sprichwörtlich ins Gesicht geschrieben ist, hinter einer Pose von Vertrauenswürdigkeit zu verbergen. Ich wusste nicht so recht, was ich mir eigentlich von dem erneuten Besuch versprach, aber der heilige Narr in mir hatte wohl seine eigenen Absichten, die sich einfach ohne großen Widerstand gegen meinen rationale Vernunft und meine Bedenken hinwegsetzten.

Ich wurde von meinem letzten Ride irgendwo in der Nähe des Schlosses Charlottenburg abgesetzt und hatte wenig Mühe, von da aus selbständig meinen Weg zu Wolfis Wohnblock zu finden. Ich identifizierte, obwohl es bereits zu dämmern angefangen hatte, ohne Mühe Hauseingang samt Namensschild und Klingel und läutete vorsichtig mit spürbar erhöhtem Herzschlag. Es dauerte eine geraume Zeit, in der ich mich für Momente noch einmal, wie von außen auf mich blickend, fragte, was zum Teufel ich da eigentlich machte, bis das Geräusch des Türöffners surrte, ich mechanisch die Tür nach innen schob, feststellte, dass das Hausflurlicht offensichtlich defekt war, und wie in Zeitlupe im Halbdunkeln die Treppen nach oben stapfte. Ich erinnere mich genau, dass ich unbewusst jemanden an der Tür erwartete, und als ich beim Näherkommen niemanden sah, für Momente daran zweifelte, ob das Surren des Türöffners überhaupt mir gegolten hatte, so unwirklich erschien mir dies alles – bis ich einen trüben Lichtstrahl sah, der anzeigte, dass die Wohnungstür einen Spaltbreit offen stand. Ich trat spannungsgeladen ein und sah sogleich, dass diesmal, im Gegensatz zu meinem ersten Besuch, die Zimmertüre offenstand und mich jetzt zu meinem großen Erstaunen vor Wolfis Tisch zwei junge Mädchengesichter anstrahlten. Das war allerdings ein Empfang, wie ich ihn nicht erwartet hatte!

„Unser verlorener Sohn ist wieder aus dem gelobten Land zurück“, dröhnte mir Wolfis stählerne Stimme entgegen, ohne dass er von seiner Verrichtung aufschaute, die, wie könnte es anders sein, in der Konstruktion einer Haschischzigarette, umgangssprachlich auch „Joint“ genannt, bestand. „Das ist Maxe, unser Naturbursche und Jungyogi aus Bayern“ – er deutete, an die beiden Elfen gerichtet, mit Kinn und Augenbrauen auf mich, weil seine Hände anderweitig beschäftigt waren. Die beiden streckten mir artig ihre Händchen entgegen, und während ich ihren laschen Händedruck erwiderte, sah ich, dass die beiden wohl noch keine zwanzig Jahre alt sein konnten. Ihre hübschen Gesichter waren noch gänzlich ohne Falten, aber mit einer deutlich sichtbaren Andeutung von dunklen Augenrändern. Es hatte den Anschein, als hätten sie wohl schon Tage keinen Sonnenschein gesehen und keine frische Luft mehr gespürt. Sofort fielen mir auch ihre rot unterlaufenen Augen auf, die auf exzessiven Haschischkonsum schließen ließen, und als sie merkten, dass ich es bemerkte, senkten sie beschämt und süß ein wenig die Köpfchen. „Chicks“, plapperte es jetzt wie mechanisch in meinem Oberstübchen. Ja, so wurde in jener Zeit von Mädchen, die solcherart eine besondere Mischung aus Unschuld und Verruchtheit ausstrahlten, geredet. „Unser Held darf zur Feier des Tages anrauchen.“ Wolfi streckte mir mit einem für seine begrenzten Möglichkeiten fast wohlwollenden Gesichtsausdruck das jüngste Prachtexemplar von Joint entgegen. „Nein, lass mal!“ Warum sprach er von Held, ging es mir, während er mit paffenden Geräuschen den Joint anrauchte, durch den Kopf. Wusste er, was mir in Christiania passiert war, oder konnte er meine Körpersprache lesen oder war es einfach Zufall und hatte nichts weiter zu bedeuten? Wolfi schob mir wortlos die Purpfeife und ein erkleckliches Stück schwarzen Afghanen über den Tisch.

Die beiden Grazien versuchten sich mittlerweile an Wolfis Joint, und ich war erstaunt, dass auch bei ihnen das von mir erwartete Husten ausblieb. Während ich das Haschisch mit einem Feuerzeug erwärmte, schaute ich immer wieder verstohlen zu ihnen hinüber. Sie waren wirklich hübsch! Und so jung! Beide hatten ganz kurz geschnittene Haare, die eine schwarz, die andere blond gefärbt, mit einem etwa zwei Zentimeter langen schwarzen Haaransatz am Mittelscheitel. Was zum Teufel hatten sie hier bei diesem alten heruntergekommenen Menschen verloren? „Wohnt ihr hier in Berlin oder seid ihr auch auf der Durchreise“, versuchte ich zögernd eine Konversation in Gang zu bringen. Beide schauten mich mit großen Augen an und lächelten. Schweigen. Ich blickte zu Wolfi. „Sie verstehen kein Deutsch“, bemerkte er trocken, indem er sie mit kalten Fischaugen musternd anglotzte. „Und Englisch?“ „Weiß nicht, kann ich nicht, sind Italienerinnen. Bella und Stella.“ „Und wie unterhaltet ihr euch?“ „Gar nicht, aber die verstehen mich trotzdem.“ Langsam wurde mir klar, dass diese zwei jungen Dinger, irgendwie, wohl weil Wolfi in Berlin eine gewisse Berühmtheit war, hier bei ihm gelandet waren, ohne sich vernünftig artikulieren zu können. „You are from Italy? Where exactly from?“ versuchte ich es noch einmal, bekam aber nur ein scheues „Yes!“ zur Antwort. „Schau mal, Maxe, das musste dir anschauen“, durchschnitt Wolfis penetrante Stimme jetzt meine Annäherungsversuche. Er hatte von unter dem Tisch ein Blatt hervorgezogen, auf dem ich eine bunte Zeichnung erkannte. „Hier, das haben die beiden extra für mich gemalt.“ Er drehte ein buntes Din-A-4-Blatt halb zu mir herüber, eine teils noch kindliches, aber mit einem gewissen handwerklichen Geschick mit bunten Filzstiften gefertigtes, abstraktes Bild, das mich durch eine gewisse suggestive Symbolkraft sofort ansprach. „Das hier soll wohl Berlin sein, und hier bin ich mit meiner Regenbogen-Aura in der Mitte. Die bunten, verschlungenen Schlangen hier sind natürlich die Haschisch-Spirits“, erklärte Wolfi mit seinem intakten Zeigefinger beflissen die Symbolik des Bildes. „Und was bedeutet die schwarze Kugel hier in der Mitte?“ „ Oh, das soll mein Herz sein, sie meinen, ich habe kein Herz, nur ein schwarzes Loch!“ Der letzte Satz schien in mir für einige Momente nachzuhallen wie ein Echo. Ich schaute unsicher zu den jungen Grazien neben mir, die mir weiter unbeirrt zulächelten, um danach ihre Köpfe zusammenzustecken und leise in Italienisch miteinander zu flüstern, so als würden sie sich irgendwie beraten. Dann drehte ich mich wieder Wolfi zu, der mich jetzt mit einem durchdringenden, aber gänzlich leeren Blick fixierte. Da schien es mir wieder, als würde ich hinter dieser Fassade des Drogen-Komikers und Alleinunterhalters eine unendliche Hoffnungslosigkeit wahrnehmen.

Plötzlich nahm ich deutlich eine Art innerer Bewegung neben mir wahr. Als ich mich zu den Mädels hindrehte, hatten ihre hübschen Gesichter einen Ausdruck, als hätten sie gerade einen Entschluss gefasst. Sie machten zögerlich ein paar Gesten in Richtung Wolfi, murmelten einige unverständliche Silben und erhoben sich beide gleichzeitig wie auf Kommando. Ich verstand zuerst nicht, was dies zu bedeuten hatte. Erst als Wolfis Miene sich schlagartig verfinsterte und er auf seinem Stuhl wie: ein Stück in sich zusammensank, verstand ich, dass sie Anstalten zum Aufbruch machten. Sie huschten elfenartig in Windeseile in den Nebenraum und kamen jede mit einem, in Verhältnis zu ihrer Körpergröße, gigantischen Rucksack zurück, und während sie noch mit den Händen und Mienenspiel einige unbeholfene Gesten der Entschuldigung und des Abschieds machten und auf italienisch Unverständliches von sich gaben, strebten sie schließlich eilig, ohne sich noch einmal umzudrehen, der Ausgangstüre zu. Wolfi, dem ich immer noch frontal gegenübersaß, verzog keine Miene und machte erst gar nicht den Versuch einer förmlichen Verabschiedung, kauerte stattdessen nur wie versteinert in seinem Sessel. Konnte ihn der Abschied der beiden so mitnehmen? Krachend fiel jetzt die Wohnungstüre ins Schloss: Danach für eine ganze Weile bedrohlich geladene Stille.

Nach einer kleinen Ewigkeit brach es aus ihm heraus: „Das hab ich dir zu verdanken, du kleiner Pisser. Wer denkst du eigentlich, dass du bist, du Kanaille“, schoss er mich unvermutet wie eine Gewehrsalve an. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, überhaupt nicht gefasst auf eine derart heftige Reaktion, und registrierte nur noch mit irgendeiner hinteren Ecke meines Gehirnes erstaunt, so als hätte ich beiläufig einen imaginären Aufnahmeknopf gedrückt, dass sich so also völlig ungebremster, schneidender Zorn, jenseits aller menschlich sozialen Gepflogenheiten, ausdrückt. „Zwei Wochen waren sie jetzt bei mir und haben sich wohl gefühlt, und nie war von Abschied die Rede, und dann schiebt so ein beschissener Grünschnabel wie du seinen pickeligen Arsch durch die Tür, und schon machen sie die Flatter. Wer glaubst du eigentlich, dass du bist, du erbärmlicher Pseudo-Yogi.“ Ehe ich mich dessen versehen konnte, hatte er ein Feuerzeug, das vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte, gepackt und nach mir geschleudert.

Zum Glück verfehlte es meinen Kopf um Haaresbreite und krachte mit einem klackenden Geräusch auf den Teppichboden und blieb dann wie ein stiller Vorwurf an der gegenüberliegenden Wand liegen. Merkwürdigerweise spürte jetzt ich die Scham für sein unsoziales Verhalten. Er schaute mich immer noch unverwandt mit dem bösen Blick an, und völlig unpassend und zu meiner eigenen Überraschung lächelte ich ihn an. Und dann passierte etwas völlig Überraschendes. Wie ein Magnet wurde meine Aufmerksamkeit nach innen gezogen, und ganz deutlich nahm ich da etwas wahr, was mir bis dahin nie bewusst aufgefallen war. Es war kein Gefühl und auch kein Gedanke, am besten ließe es sich wie eine Gegenwart, ein stiller innerer Beobachter beschreiben, der in diesem Moment wie eine Instanz war, und diese Instanz signalisierte mir ganz deutlich und ohne allen Zweifel: Ich bin sein Herr! Ja, ich hatte in Wirklichkeit die spirituelle Macht über ihn und nicht umgekehrt! Ob er das in diesem Moment wohl auch wahrnahm? Verstohlen blickte ich zu ihm hinüber und stellte fest, dass er, wider alle Logik nach dem, was soeben gerade zwischen uns passiert war, ganz aufgeräumt schien. Zumindest ließ er sich nichts anmerken. In diesem Moment klingelte es.

„Mach auf“, wies er mich schon wieder im gewohnten Befehlston, wenn auch mit deutlich sanfterem Unterton an. „Drück auf den Türöffner.“ Er schien schon zu wissen, dass jemand vor der Haustüre auf der Straße und nicht etwa oben vor der Wohnungstüre stand. Während ich beflissen seinen Auftrag ausführte, überlegte ich irritiert, ob es sich die Mädels wohl wieder anders überlegt, ob sie vielleicht etwas vergessen hatten oder einfach zu dieser unchristlichen Zeit nicht wussten wohin. Erst jetzt fiel mir auf, dass es inzwischen draußen völlig dunkel geworden war. Ich ließ die Wohnungstüre einen Spalt und die Zimmertüre ganz auf und hatte mich wieder auf meinen Stuhl begeben, so dass Wolfgang sofort auf den ersten Blick sehen konnte, wer es war, der oder die da jetzt den Weg in sein Reich gefunden hatte, wie eine Fliege ins Netz der Spinne, und für einen Moment hatte ich das fast körperliche Gefühl, Teil einer finsteren, sagenhaften Räuberhöhle zu sein.

Bald war ein zögerliches, leises Klopfen an der Wohnungstür zu vernehmen.

„Komm rein“, kam es für meine Ohren viel zu laut und wie aus der Pistole geschossen aus Wolfgangs Mund. Da öffnete sich langsam die Tür, und stutzend erlebte ich für einen Moment dieses merkwürdige Phänomen – etwas deutlich zu sehen und es für einen Moment doch nicht zu fassen – das immer dann auftritt, wenn das Bild im Außen nicht mit dem inneren Bild, das man sich im Gehirn von einer Situation gebildet hat, und das man unbewusst auf die Wirklichkeit projiziert, übereinstimmt. Da waren keine kleinen Italienerinnen im gelben oder roten Fummel, sondern eine blau-weiß gekleidete Erscheinung, deutlich größer und breiter als die beiden Nymphen, mit langen, wehenden Haaren unter der weißen Wollmütze, die sich da gerade, fast schwebend, ins Zimmer hereinbegab. Sie hatte sich ein verschämtes Schutzlächeln aufgesetzt, während sie auf Zehenspitzen, trotz der winterlichen Verhältnisse in einer Art von Ballerinas, auf uns zuschritt. Noch hatte sie keinen Laut von sich gegeben, und ich drehte mich unwillkürlich halb zu Wolfi hin, dessen Augen sich verengt hatten und gleichzeitig einen Ausdruck annahmen, als wenn er sich nicht sicher wäre, ob er die Besucherin nun kennen müsste. „Wer bist du, kennen wir uns?“ kam es jetzt fast etwas unsicher aus ihm heraus. „Ich bin Marie-Luise, eine Freundin hat mir von dir erzählt, es macht dir hoffentlich nichts aus, dass ich einfach so unangemeldet hereinschneie.“ Sie gebrauchte den Ausdruck „Hereinschneien“, obwohl es mir eher so vorkam, als wenn soeben mit ihr ein Hauch von Frühling durch die Türe gekommen wäre. „Ach, i wo, nur imma herin inde jute Stube“, ließ nun Wolfi wieder sein betont harmloses Berliner Ich hören, in seiner Stimme schwang jetzt etwas wie heimliche Freude mit, nun hatte er jedenfalls genug Information, um die Überraschungsbesucherin in seine gewohnten Koordinaten einzuordnen, und sofort hatte er sich wieder in die Rolle des jovialen, Bonmots sprühenden Sprechautomaten begeben.

 

„Woher kommst du?“ „Von der Sonnenallee in Neukölln.“ „Unsere Marie-Luise aus der Sonnenallee, das passt zu ihr, nicht wahr, Maxe!?“ wendete er sich jetzt plötzlich onkelhaft und künstlich gut gelaunt zu mir hin, so als wenn es seine Wutausbruch und meine Offenbarung, wer von uns beiden der Herr und wer der Knecht war, alles vor einer Minute, nie gegeben hätte, und mit einem merkwürdigen Unterton, fast so, als wollte er sie mir gerade anbieten. Ich wusste für einen Moment nicht, was ich darauf sagen sollte, und stammelte nur unbeholfen: „Ja schon, passt wirklich irgendwie.“ Wolfgang schnarrte jetzt wie aufgezogen, wieder vollständig in seinem Element, sein übliches Unterhaltungsprogramm herunter, während er automatisch anfing einen neuen Joint zu drehen, wohl jetzt zu Ehren des erfreulichen Überraschungsgastes. Ich bot dieser Goldmarie mit einer Handbewegung den Platz neben mir an, der von einer der beiden italienischen Elfen noch warm sein musste. Während sie sich setzte, trafen sich unsere Blicke, und diese Begegnung hatte gleich etwas wohltuend Vertrautes. Ich spürte, wie sich meine Wangen mechanisch zu einem freudigen, leicht verschämten Lächeln auseinanderzogen, und war einfach nur erleichtert, dass ich jetzt zumindest vorerst keinen weiteren Hasstiraden von Wolfgang ausgesetzt sein würde.

Marie-Luise hatte sich inzwischen artig gesetzt und mich beschlich für einen Moment das Gefühl, dass Gott mir da einen Engel gesandt hatte, um mich aus den Fängen der Finsternis zu retten; ich verwarf den Gedanken aber sofort wieder als romantisch-esoterisch überkandidelt. Wolfi verschwand bereits wieder in einer Wolke aus Haschischqualm und streckte mir, nachdem er unglaubliche Mengen inhaliert hatte, den bereits halb heruntergebrannten Joint zu, mit einem kurzen Deuten des Kopfes hin zur Frühlingsbraut. Mir war es recht, hatte ich doch die Lust am ewigen Rauchen inzwischen gründlich verloren, und auch Marie-Luise sog nur kurz wie nippend an dem Glimmstengel und gab ihn dann gleich wieder an mich zurück. Ich tat erst gar nicht mehr so, als würde ich rauchen wollen, um vielleicht Wolfis Erwartungen nicht zu enttäuschen, reichte ihn stattdessen gleich an ihn weiter. Der ganze Raum war ohnehin voll von blauem Dunst, und jeder, der sich darin aufhielt, war zum Mitrauchen verurteilt, ob er wollte oder nicht. Und Wolfi hasste offensichtlich das Lüften; ich habe ihn in all den vielen Stunden, die ich mit ihm verbrachte, kein einzigesmal das Fenster öffnen sehen, das machten immer andere für ihn, meistens, wenn er gerade in dem geheimnisvollen Nebenraum verschwunden war. „Ich bestehe nur noch aus Haschisch“ war einer seiner Lieblingssprüche, und ich muss gestehen, dass ich, als ich ihn gerade kennenlernte, schon mal darüber nachdachte, ob und wie das denn möglich sein könnte.

Jetzt beugte er sich wieder zu seiner altmodischen Radio- und Schallplattentruhe hinunter – so eine hatten auch meine Eltern gehabt, und paradoxerweise hatte ich ausgerechnet mit ihr meine ersten, sehr einschneidenden Erfahrungen mit dem damals sehr avantgardistischen Gitarrensound von Jimi Hendrix gemacht –

und drehte die Lautstärke hoch. Und wieder wurde gerade in diesem Moment ein Lied im Radio gespielt, das damals zu meinen Lieblingsstücken zählte, das ich aber seit der für mich so tragischen Liebesgeschichte mit meiner ersten großen Liebe in Schweden, schon aus reinem Selbstschutz, nicht mehr gehört hatte – „Love the one you are with“ von Stephen Stills – und das sich für mich in dieser Konstellation wie eine Aufforderung anfühlte, das Beste aus der Situation zu machen. Ich beobachtete mit Erstaunen, wie mir augenblicklich so etwas wie ein leichter elektrischer Strom in die Glieder fuhr und ich daraufhin ganz spontan – sie muss es wie eine Überrumpelung empfunden haben – die Hand der Goldmarie neben mir nahm und sie mit mir in die Mitte des Raumes zog. Noch während ich das tat, beobachtete ich gleichzeitig, wie mir mein Verstand, kühl aber plausibel, die Frage einflüsterte, was ich da überhaupt mache, ein so lausiger Tänzer wie ich es doch war. Aber ich trat jetzt einfach die Flucht nach vorne an, meinem ursprünglichen vitalen Impuls folgend, und ehe sich noch ein weiterer störender Gedanke aufdrängen konnte, wirbelten wir schon gemeinsam, uns bei den Händen haltend und die Fliehkräfte für unsere Drehbewegung nutzend, im Kreis. Ich lachte sie dabei an, und wie jedem normalen Mädchen auf dieser schönen Erde gefiel ihr das sichtlich, und sie strahlte zurück, während Stephen Stills noch einmal das Tempo und die Lautstärke zu erhöhen schien. Nun traute ich mich sogar, sie wie ein richtiger Tänzer in den Arm zu nehmen, und obwohl ich nie in meinem Leben einen Tanzkurs besucht hatte, improvisierte ich irgendwelche Tanzschritte, und es fühlte sich tatsächlich, solange es mir gelang, meinen Verstand ausgeschaltet zu lassen, so an, als würde ich sie führen. Aber das letzte Loslassen, um mich ganz zu vergessen, damit „Es“ tanzen konnte, gelang mir nicht, was mein fieser innerer Beobachter irgendwann auch ziemlich nüchtern feststellte, und so brachte ich das Ganze schließlich zu einem langsamen Ende und verneigte mich zum Abschluss wie ein galanter Herr noch einmal vor ihr. Als ich mich zu Wolfgang hin umdrehte, bemerkte ich erst, dass er sich inzwischen von seinem Stuhl zum Fenstersims begeben hatte, wohl um dieses Schauspiel aus nächster Nähe beobachten zu können, und da saß er nun mit baumelnden Beinen, fast wie ein Harlekin, und zu meinem großen Erstaunen sah ich so etwas wie Respekt und Bewunderung in seinen Augen. Dieser Gefallenste aller mir bekannten Menschen, der von sich selbst sagte, er habe überhaupt kein Herz mehr, hatte sich offensichtlich noch ein Restempfinden für die Schönheit des Geschlechterspiels bewahrt! Drückte sich da vielleicht auch eine heimliche Sehnsucht nach etwas sehr Kostbarem aus, was er verloren hatte?

„Das war jut, Maxe“, kam es für seine Verhältnisse erstaunlich leise und mit einem deutlichen Unterton von Bewunderung aus ihm heraus. Wir setzten uns wieder, noch ein bisschen außer Atem, während Wolfgang sehr still in seinem Stuhl saß und mit gewohnt leerem, aber doch unangenehm direktem  Blick uns in die Augen sah. Als dann auch noch von den Stones „Sympathy for the devil“ aus dem Radio plärrte, ein Stück, das ich noch nie leiden konnte, sah ich den Zeitpunkt gekommen, aufzustehen und mich von meinem durch die aktuellen Ereignisse etwas entzauberten Gastgeber zu verabschieden. „Ja, ich werde es dann packen“, sagte ich floskelhaft, ohne eine Ahnung zu haben wohin, und sofort sprang Marie-Luise mit einem „Ja, ich auch!“ neben mir aus ihrem Stuhl hoch, obwohl sie noch keine halbe Stunde dagewesen war. Wolfi schien noch ein bisschen mehr in seinem Stuhl zusammengefallen, und diesmal kam keine Beschwerde mehr von ihm, wie zuvor bei den jungen Dingern, seine ganze Haltung und seine Augen drückten nur noch düstere Depression aus. „Also dann bis demnächst, Wolfi, und danke für deine Gastfreundschaft“ – mit diesen Worten drückte ich mich zusammen mit meiner Goldmarie hastig aus der Tür.

Auf der Straße schlug uns eine unerwartet straffe Kälte entgegen, und als ich so etwas unschlüssig dastand, aber mit einem Lächeln auf meinem Gesicht, sagte sie spontan: „Wollen wir zu mir gehen, ich wohne in der Sonnenallee, in Neukölln?“ Klar wollte ich das, es gab wohl im Moment nichts, was ich lieber wollte, und so trotteten wir zusammen, fröstelnd aber sehr zufrieden, wie sich die Dinge ergeben hatten, einander an der Taille fassend im trübsten Aprilwetter Richtung Sonnenallee los. Sie hatte eine recht geräumige Wohnung in einem typischen Berliner Altbau, ich konnte schnell feststellen, dass sie in der Zweieinhalbzimmerwohnung ganz alleine wohnte, also offenbar auch keinen Freund hatte, nur eine träge Katze, die die meiste Zeit auf ihrem Kissen in der Küche vor sich hin döste. Jetzt erst fragte sie mich: „Woher kommst du, Max, bist du aus Berlin?“ Sie sagte Max, obwohl mich Wolfgang in ihrer Gegenwart nur immer berlinerisch breit Maxe genannt hatte, und die Weise, wie sie meinen Namen aussprach, war wie Balsam auf meine Seele, weil darin eine eigentümliche Vertrautheit mitklang, wohl die Vertrautheit zu wissen, dass wir beide Menschen waren, einfach nur Menschen und deshalb ganz selbstverständlich auch Bruder und Schwester. „Eigentlich aus München, aber irgendwie hat es mich vor ein paar Wochen nach Berlin verschlagen, ohne dass ich das geplant hatte, ich denke, da hat das Schicksal mal wieder hart zugeschlagen.“ Sie lachte auf bei dieser Bemerkung, einerseits wohl, weil sie das Sprachbild einfach witzig fand, andererseits, weil sie wahrscheinlich erkannte, dass ich ein Mensch mit Humor war, was Frauen ja bei Männern generell sehr zu schätzen wissen, zumindest behaupten sie das immer gerne. Den Rest des Abends und der halben Nacht verbrachten wir damit, dass wir uns sehr offen Geschichten aus unserem Leben erzählten, sie hatte gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich und mir tat es gut, über meine jüngere seelische Talfahrt einem einfühlsamen weiblichen Wesen bis in die intimsten Einzelheiten erzählen zu können. Sie fragte auch interessiert nach, was das denn für ein Guru gewesen sei und was wir bei ihm gelernt hätten. Auch das tat ich gerne und ein wenig ausschweifend, weil ich mich da so ganz in meinem Element fühlte, und sie hörte aufmerksam und geduldig zu, ohne im einzelnen nachzufragen. Die Nacht verbrachten wir in getrennten Betten, was mir gar nicht unrecht war, nach dem noch so frischen Offenbarungseid meiner Liebhaberkompetenzen im Falle von Babsi.

Der letzte Akt

Der nächste Morgen war trüb und wolkenverhangen und eine ganz merkwürdige atmosphärische Schwere lag über der Stadt. Es schien, als hätte meine Seele bereits eine geheime düstere Vorahnung, dass soeben der schlimmste Tag meines Lebens angebrochen war. Wir frühstückten noch zusammen in ihrer gemütlichen Küche, in der ganz auffällig die Farben rosa und grün dominierten, erzählten uns noch dies und das aus unserem Leben, und ich erfuhr auf diese Weise noch, dass sie seit einigen Jahren von Sozialhilfe und Betreuungsjobs von Kindern und Alten lebte, mit denen sie sich schwarz etwas dazu verdiente, dass sie eigentlich aus der Nähe von Karlsruhe kam, erst vor einigen Jahren dort ihre Familie und den gesamten Freundeskreis aufgegeben hatte und aus einem spontanen, nicht rationalen Entschluss heraus ganz allein nach Berlin gezogen war – um sich selbst zu finden, wie sie sagte. Aber eine richtig lebendige Kommunikation wollte zwischen uns nicht mehr so recht in Gang kommen und so bedankte ich mich schließlich artig für ihre Gastfreundschaft und die schöne Begegnung, nahm meinen Rucksack, zog die Wohnungstür hinter mir zu und fand mich kurze Zeit später, mitten unter dem befremdlichen Gewusel und den Geräuschen einer mit sich selbst beschäftigten Großstadt, wieder auf der Straße.

Es hatte über Nacht geschneit, und da, wo keine Autos oder Menschen verkehrten, lag einige Zentimeter hoch frischer Schnee, der in einem eigentümlichen Kontrast zu der ganzen Schmuddeligkeit und Versifftheit der Neuköllner Straßen Reinheit und Sauberkeit ausstrahlte. Da stand ich nun, und erst jetzt fiel mir mit verhaltenem Schrecken auf, wie alleine ich mich plötzlich fühlte und wie sehr mir in diesem Moment auch jegliches Gefühl dafür abhandengekommen war, irgendwohin zu gehören, geschweige denn einen Plan zu haben, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Ich dachte an München, an meine Existenz in meinem Gartenhäuschen, das erschreckende Fehlen von etwas, was man als soziales Netz bezeichnen könnte, und die fehlenden Perspektiven für mein weiteres Leben. Da beschlich mich plötzlich ein so abgründiges Gefühl von Heimatlosigkeit, dass mich ein mir bis dahin so gut wie unbekanntes Phänomen überwältigte, Selbstmitleid. Verzweifelt versuchte ich mich daran aufzurichten, dass ich doch erst vor wenigen Tagen eine wundersame Gottesoffenbarung empfangen hatte und dass dies doch weiß Gott Grund genug sein müsste, um wenigstens ein bisschen stolz auf mich sein zu können. Ich versuchte mich zu erinnern, was die Leitgedanken gewesen waren, die mir da geschenkt worden waren, zu meiner und wohl auch zur Hilfe von anderen. Was hatte sich mir denn von diesen neunzehn Sätzen am stärksten eingeprägt, konnten die mir jetzt nicht wenigstens ein wenig Linderung verschaffen? Dafür waren sie doch gedacht!

Ich versuchte mich zu erinnern. „Ich darf glücklich sein.“ Nein, es hieß anders, ja, jetzt hab ich es: „Meine…“ Ja, so hieß der Satz: „Meine einzige Verantwortung ist es, glücklich zu sein.“ Ich versuchte den Sinn in mir nachwirken zu lassen. Ungefähr fünfmal hintereinander sprach ich es leise vor mich hin, meine derzeitige Umgebung auf Berlins Straßen fast völlig vergessend. Schließlich spürte ich ängstlich und vorsichtig in mich hinein, wie mit einem imaginären Geigerzähler für positive Energie, ob ich wohl irgendwelche Zeichen einer Strahlung feststellen konnte. Hatte irgendetwas von den Gottesformeln eine positive Resonanz in meiner Seele hinterlassen? Ja tatsächlich, mir war, als spürte ich tatsächlich eine Veränderung in meinem Gemütszustand, aber bei genauerem inneren Abtasten fühlte es sich eher so an, wie wenn man versuchen würde, einen Abfallhaufen mit einem wertvollen Perserteppich abzudecken. Enttäuscht gab ich nach einigen Minuten diesen offensichtlich untauglichen Versuch, mich an meinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, wieder auf. Ich fühlte mich einfach nur hundeelend. Erinnerungen an diese denkwürdige einsame Nacht in meinem Gartenhäuschen kamen zurück, als ich in meiner Verzweiflung wie ein Baby nach meiner Mama geschrien hatte. War ich genau wieder an dem gleichen Punkt angelangt, hatte sich denn gar nichts Wesentliches in der Zwischenzeit ereignet? Ich hatte doch so viel Neues und Wunderbares auf dieser verrückten Reise erlebt – hatte das überhaupt keinen Einfluss auf meinen Seelezustand gehabt?

Da mir klar wurde, dass ich mich jetzt auf keinen Fall einfach passiv meiner Verzweiflung überlassen konnte, begann ich aktiv nach Lösungen zu suchen. Was konnte ich jetzt am besten machen, um aus diesem fürchterlichen Zustand zu kommen? Schließlich wurde mir klar, dass kein Weg daran vorbeiführte, mich einfach wieder auf den Rückweg nach München zu machen, wo doch am Ende noch am ehesten so etwas wie meine eigenen Wurzeln waren. Dort musste ich versuchen, mein klägliches Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Vielleicht wieder einige Zeit zu jobben, um dann, ja genau, nach Persien zu fahren. Ja, das war doch der Auftrag, den ich in Christiania in dieser denkwürdigen Nacht bekommen hatte! Und erst dieser Gedanke war es dann letztlich, der mir schließlich doch noch so etwas wie keimhafte Zuversicht schenkte, dass auch ich bald wieder eine bessere Zukunft haben könnte und dass vielleicht, indem ich diesem Ruf folgte, ich wieder so etwas wie Halt und Sinn in mein entwurzeltes Dasein bekommen würde.

Warum ich dann doch nicht einfach diesen Plan zielgerichtet in die Tat umsetzte, sondern mich von dem plötzlich auftauchenden zusätzlichen abstrusen Gedanken, vorher noch mal bei Wolfi vorbeizuschauen, beeinflussen ließ, ist mir bis heute ein Rätsel. War es das schiere körperliche Bedürfnis nach einem geheizten Raum, weil mir inzwischen so kalt auf Berlins Strassen geworden war, dass ich angefangen hatte zu frösteln, oder war es die Aussicht, jetzt an einen Ort gehen zu können, wo ich wusste, dass ich wenigstens auf eine eigentümliche, fast perverse Art immer willkommen war? Oder war es schlicht der dumpfe Instinkt des Opferlammes, sich freiwillig in die Hände seines Schächters zu überantworten? – ich vermag es nicht zu sagen. Wolfi sah nicht im geringsten überrascht aus, mich nach meinem gestrigen Ad-hoc-Abgang bereits so schnell wieder zu sehen. Vielleicht bluffte er auch nur, jedenfalls meinte ich, etwas Lauerndes in seinen Augen erkennen zu können, als ich mich mit leichter Verlegenheit auf seine „Schaltzentrale“ in Gestalt seines versifften Sessels und des Tisches mit den diversen Rauchutensilien zubewegte, dessen Brandspuren auf eine lange Saga exzessiver Rauschmittelabhängigkeit hinwiesen.

„Machste mal die Fenster wieder zu.“ Wolfi tat so, als wenn es das Selbstverständlichste von der Welt wäre, dass ich Opfer nun da wieder vor ihm erschienen war und, wie eingespielt, Kulisse und Publikum zugleich für seine narzisstische Selbstdarstellung abgeben sollte, die aus der Erfahrung mal mehr mal weniger Unterhaltungswert hatte. Und doch war heute irgendetwas anders. Schon dass er überhaupt zum ersten mal, seit ich mich erinnern konnte, selbst die Räume lüftete, fiel mir auf, aber mehr noch etwas unbestimmt Atmosphärisches, was heute deutlich anders war. Als ich dem in mir nachspürte, kam ich fast sofort dahinter, was der Unterschied zu sonst war: Er machte sich, anders als ich es bis dahin immer gewohnt war, erst gar nicht mehr die Mühe, auf diese ganz spezielle, leicht aufgesetzte Art wohlwollend und interessant zugleich zu erscheinen. Ein kaum merkliches astrales Frösteln kroch jetzt in mir hoch, das ich trotz meiner immer noch dumpfen Mattigkeit deutlich von dem kühlen Luftstrom beim Schließen des Fensters zu unterscheiden vermochte. Jetzt saßen wir uns Auge in Auge gegenüber. Sein Blick war eine seltsame Mischung aus Abschätzung und Sympathie. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schwieg Wolfi jetzt eine ganze Weile und schaute mich dabei die ganze Zeit an. Weil ein psychisches Kräftemessen in meiner erbärmlichen Verfassung das letzte war, was ich jetzt brauchen konnte, schloss ich einfach meine Augen. Ich spürte eine unendliche Müdigkeit, die nicht nur körperlich war, und hatte das Bedürfnis, mich einfach fallenzulassen, irgendwohin, wo ich mich mit meinem überforderten Ich in einem imaginären Mutterschoß einfach auflösen könnte.

„Ich habe sehr gutes LSD, willst du es mal probieren, dagegen ist das Haschisch nur ein jämmerliches Vorspiel? Kannst dich auch auf meiner Couch im Nebenzimmer ausruhen und den Trip ganz ungestört für dich genießen.“ Seine Stimme klang nach dieser langen ungewohnten Phase des Schweigens grob und unstimmig, und es dauerte eine Weile, bis die Worte sich zu einem Sinn in mir verdichteten. Er bot mir an, hier bei ihm einen LSD-Trip zu nehmen, nur ich allein? Warum nach allem, was ich bereits von ihm erfahren hatte und über ihn wusste, nicht sofort sämtliche Alarmglocken und roten Lampen zugleich angingen, vermag ich mit meinem jetzigen Wissensstand nicht zu sagen. Vielleicht war ich auf eine ganz tiefe unbewusste Art und Weise einfach lebensmüde, oder das, was jetzt kommen sollte, war einfach das Drehbuch meines Schicksals. Und da war auch dieses tiefe, übermächtige Bedürfnis, mich fallenzulassen, mich aufzulösen, um die harte Realität meiner verkrachten Existenz nicht mehr ertragen zu müssen, und da muss ich wohl dieses überraschende Angebot wie die Möglichkeit der Erfüllung dieser geheimen Sehnsucht nach Auslöschung interpretiert haben.

Im nachhinein und mit dem Abstand, den ich heute habe, kann ich in seiner Vorgehensweise deutlich den geschärften Blick des Adlers erkennen, der instinktiv spürt, wann das Kaninchen sich zu weit vom Schutz seines Baues entfernt hat, um genau im richtigen Moment zuzustoßen. Und er machte sich dabei gar nicht mehr die Mühe, mit schmeichelndem Unterton seiner Absicht mehr Erfolgsaussichten zu verleihen, so ungeduldig und voll gespannter Gier war er auf den Vollzug dessen aus, was sich auch ihm wohl nicht allzuoft als Gelegenheit bot. Und was mich betraf, so hatten sich meine natürlichen Abwehrmechanismen und jegliches gesunde Misstrauen bereits vorher, ich weiß nicht wo, verabschiedet. Ich war in die fatale Falle eines Opfers geraten, das aus einer hilflosen Perversion heraus seinem Schlächter, an dessen Hand es gerade zur Schlachtbank geführt wird, Vertrauen schenkt, dass das, was jetzt gleich mit ihm geschehen sollte, auf eine völlig paradoxe Weise doch irgendwie gut wäre.

Ich sah mich jetzt wie in Trance hinter Wolfi in den Nebenraum schleichen, den ich bis dato noch nie von innen gesehen hatte. Er war ebenso schmucklos und spartanisch eingerichtet wie sein „Empfangsraum“. Der Eingangstür gegenüber befand sich ein Doppelbett, aufgewühlt mit deutlich erkennbar schmutzigen Laken samt Decke mit Überzug, und rechts davon war eine ausladende, ebenfalls schmuddelige braune Samtcouch mit sichtbaren Brandlöchern. Darauf steuerte er jetzt zielsicheren Schrittes zu. „Setz dich, hier kannst du es dir für die nächsten Stunden bequem machen.“ Sein Ton hatte jetzt eine suggestive Selbstverständlichkeit angenommen. Ich tat, wie mir geheißen, und schon streckte er mir seine unversehrte hohle Hand entgegen, in deren Kuhle eine winzige lila Tablette lag. „Einfach in den Mund und unter der Zunge zergehen lassen, der Rest geschieht ganz von selbst. Machs dir gemütlich. Du wirst dich wundern.“ Ich tat brav, was er sagte, und hatte mich gleichzeitig auf der Couch hingelegt. Er griff mit einer raschen Bewegung nach dem alles andere als sauberen Daunenkopfkissen von seinem Bett und schob es mir unter den Kopf. Die LSD-Tablette war so klein, dass ich sie kaum in meinem Mund spürte, ich vermied es in einer Art vorauseilendem Gehorsam, einfach zu schlucken, damit sie ihre wie auch immer geartete mysteriöse Wirkung entfalten konnte. Jetzt merkte ich vollends, wie unendlich müde und leer ich innerlich war. Es schien, als hätte sich meine Identität verabschiedet, und alles was ich noch wollte, war, mich einfach fallenzulassen, zurück in den großen Mutterschoß. Ich hatte meine Augen geschlossen und registrierte noch, dass Wolfi die Tür einen Spalt breit offengelassen hatte und gerade wieder die Lautstärke seiner Anlage aufdrehte.

Ich nehme noch wahr, dass sie „Sounds of Silence“, eines meiner Lieblingslieder von Simon and Garfunkel, spielen, „Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk with you again“, bevor ich in einer Mischung aus Meditationsmodus und dumpfer Bewusstlosigkeit absinke. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zwischenzustand vor mich hingedämmert habe, wohl nicht sehr lange, bis ich ein merkwürdiges Gefühl sich in mir ausbreiten fühle. Es ist eigentlich weniger ein Gefühl als einfach eine linde Vorstufe von Panik: Etwas stimmt hier ganz und gar nicht! raunt mir meine innere Stimme zu. Plötzlich bin ich hellwach, alle Alarmglocken scheinen gleichzeitig in mir abzugehen. Gefahr! Etwas hat es auf meine Seele abgesehen! Ich springe von meiner Couch hoch, ziehe in aller Eile meine Schuhe an, gehe geradewegs nach nebenan, packe meine sieben Sachen und bin schon ohne jede weitere Erklärung an der Wohnungstür. Aus den Augenwinkeln kann ich gerade noch Wolfis überraschten Gesichtsausdruck wahrnehmen. „Was is, Maxe?“ Seine Stimme klingt jetzt deutlich verunsichert. An der Türschwelle drehe ich mich noch einmal zu ihm um und ich sage diesen letzten Satz, der heute noch ganz deutlich in mir nachklingt und der so merkwürdig unzusammenhängend erscheint: „Mister Natural verabschiedet sich!“

Fast stürze ich auf die Straße hinaus, wo ich zu meiner Überraschung feststelle, wie hell gleißend die Sonne scheint und wohl den ganzen Tag schon geschienen hat, ohne dass ich es registriert hätte. Auf den Autodächern und teilweise den Bürgersteigen liegt eine dünne Schneeschicht, die im Tauen begriffen ist. Ich stapfe aufs geratewohl drauflos, ohne Plan wohin. Meine ganze Aufmerksamkeit ist jetzt auf die verschiedenen Stimmen in meinem Kopf gerichtet. Meine Panik ist eher noch angewachsen. Ich weiß jetzt sicher, dass es um meine Seele geht. Wer kann mir jetzt noch helfen? Nimmt denn niemand hier wahr, wie schlecht es mir geht? Mein innerer Beobachter registriert das Selbstmitleid, das in diesem stummen Schrei liegt. Ich verachte mich dafür. Aus purer Verzweiflung und Hilflosigkeit heraus lasse ich mich einige Straßen weiter, da, wo ich gerade stehe, einfach fallen. Ich registriere, wie mein Hinterkopf unsanft auf den Boden aufschlägt. Ich liege jetzt auf den Straßen Berlins und hoffe auf – ich weiß nicht was. Meine Augen halte ich geschlossen. Nicht lange, dann höre ich, wie eine männliche Stimme mich anspricht: „Geht es Ihnen nicht gut?“

Vorsichtig und total verängstigt öffne ich meine Augen einen Spaltbreit und schaue in ein junges, besorgtes Männergesicht, das sich über mich gebeugt hat. Die ehrliche Anteilnahme, die ich darin lesen kann, vermag mir für einen kurzen Moment gutzutun. „Ich bin krank an Berlin“, kommt es aus mir heraus, und ich beobachte mich dabei wie von außen. „Das kann ich gut verstehen. Das kann ich sehr gut verstehen“, höre ich den jungen Mann jetzt sagen. Er hilft mir mit der Rechten auf und hat mir seine Linke in einer wohlwollenden Geste auf den Oberarm gelegt. „Geht’s wieder?“ Er schaut mir jetzt aus kurzer Distanz fürsorglich in die Augen. Ich nicke müde und muss mir gleichzeitig eingestehen, dass solche Mätzchen, mit denen ich gerade versucht habe, irgendwie Mitleid oder Hilfe zu erzwingen, unwürdig sind und nur pure Hilflosigkeit offenbaren. Ein schwerer, tödlicher Ernst hat sich wie Blei auf mich gelegt, und ich bin mir überdeutlich bewusst, dass ich mit diesem Schicksal völlig alleine bin, dass kein Mensch mir mehr helfen kann. Ich nicke meinem Helfer noch mal stumm zu und gehe weiter, ohne zu wissen wohin. Die Wirkung des LSD muss jetzt voll aktiv sein, aber ich registriere die Symptome kaum so wie gewohnt, alles in mir ist jetzt nur auf ein Einziges ausgerichtet: Wie kann ich meine Seele retten?

Ein kaum zu ertragendes Gefühl schwerer Schuld weitet sich in meinem Inneren immer mehr aus. Die Passage aus der Bibel kommt mir in den Sinn, wo es heißt, dass die Sünde gegen den Vater und gegen den Sohn verziehen werden kann, nicht aber die Sünde wider den heiligen Geist. Ich bin ein Verdammter! Eine Stimme in meinem Kopf sagt mir ganz deutlich: Jetzt kannst du deine Seele nur noch retten, wenn du ein großes Opfer bringst, dein Augenlicht!

Ich weiß sogleich nur zu gut, was das zu bedeuten hat. Ich bleibe stehen und sehe eine Parkbank in meiner Nähe. Jetzt registriere ich erst, dass ich wohl inzwischen bereits im Charlottenburger Schlosspark angekommen bin. Ich setze mich auf die Bank und schaue direkt in die Sonne. Ich muss mein Augenlicht hingeben, um meine Seele zu retten, hämmert es immer wieder in meinem Kopf! Die Sonne ist weiß und unnatürlich hell. Ich zwinge mich, mit weit offenen Augen direkt ins gleißend helle Licht zu schauen, obwohl ein automatischer Schutzreflex meine Lider sich schließen lassen will. Ich beginne zu merken, wie das intensive Strahlen anfängt meine Netzhaut anzuätzen, und es fühlt sich so an, als wäre ein kleiner Fleck darin bereits erblindet. Eine Urgewalt in mir fängt an, sich gegen die drohende Erblindung zu wehren. Was ist los mit dir, du Schlappschwanz, ist deine Seele nicht viel mehr wert als das bisschen Augenlicht? Schließlich kann ich meine Augen nicht mehr offenhalten, ich muss die Lider wieder schließen. Ein extrem helles Nachbild fühlt sich für eine ganze Weile noch so an, als würde ich immer noch in die Sonne schauen. Die Farben dieser inneren Sonne wandeln sich langsam von Weiß zu Gelb, Orange und schließlich Rot, bis es am Ende zu einem dunklen Violett geworden ist. Ich hab die Prüfung nicht geschafft, ich habe dieses Opfer nicht bringen können! Ich öffne langsam meine Augen wieder, und in meinem Sehfeld zeichnet sich jetzt deutlich ein blinder Fleck ab. Ein dumpfes Gefühl kriecht in mir hoch, dass ich keinen Platz mehr unter den Menschen habe.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass es hinter dem Schloss deutlich dunkler wird, dass da ein Wald, zumindest eine dichte Baumbepflanzung sein muss. Ich erhebe mich schwerfällig und unendlich müde von meinem Sitz und steuere auf einen Weg zu, der am Schloss vorbei in das Dickicht führt. Ein starker Drang zieht mich weg aus der Gemeinschaft der Menschen, ich fühle, dass ich keine Berechtigung mehr habe, mich zu ihr zu zählen. Als ich den Seitenflügel des Schlosses passiere und gerade noch seitlich aus den Augenwinkeln einige Gegebenheiten der Fassade und der Schlossfenster registriere, vernehme ich eine sanfte, kaum merkliche Stimme in mir. Eigentlich sind es mehr verdichtete Gedanken. „Du bist einer von vierundzwanzig auf der Erde.“ Was war das eben? Ich registriere, dass hinter dem Schlosskomplex tatsächlich so etwas wie ein Wald beginnt. Fast fühle ich ein wenig Erleichterung, dass ich mich jetzt aus der Welt der Menschen fortschleichen kann, und ich ziele jetzt auf den Teil des Parks, wo die Bäume am dichtesten sind, bleibe aber immer noch auf dem vorgezeichneten Weg. Dann trifft mich wieder wie ein brutaler Schlag die Einsicht in die abgründige Unausweichlichkeit meiner Lage, mit ihrem für den natürlichen Menschen schier nicht zu ertragendem Ernst. Ich bin verloren, verdammt, niemand kann mir mehr helfen und ich ganz alleine bin selbst daran schuld und verdiene es auch nicht anders. Nicht mal ein einfaches Opfer konnte ich Feigling bringen, um meine Seele, das kostbarste, was ein Mensch besitzt, zu retten, hämmert eine innere Stimme in meinen Kopf. Inzwischen hat es angefangen zu dämmern, und zusammen mit dem Wald, der immer dichter wird, breitet sich mehr und mehr ein diffuses Zwielicht um mich herum aus. Jetzt fällt mir auf, dass ich schon lange keiner Menschenseele mehr begegnet bin. Mir ist es einerlei, ich fühle ganz deutlich, dass ich mein Naturrecht als Mensch unter Menschen verwirkt habe, und wie zur Bestätigung komme ich an eine Lichtung, in der ein Futtertrog für Wildschweine aufgestellt ist. Ich traue meinen Augen kaum, weil es so absurd erscheint, dass ich da tatsächlich gerade mitten in Berlin direkt auf einen richtigen Schweinetrog zulaufe. Sofort fällt mir die Geschichte vom verlorenen Sohn ein, der, als er das ganze väterliche Erbe durchgebracht hatte, seinen Hunger nicht mal mehr an den Schoten im Schweinetrog sättigen konnte. Ihm blieb noch der Rückweg zu seinem Vaterhaus, ich Elender aber habe die Grenze überschritten, an der es noch ein Zurück in die menschliche Gemeinschaft geben kann.

Etwas zieht jetzt wie ein Magnet meine Aufmerksamkeit nach innen auf mein Herz. Das heißt, den Ort, wo einmal mein Herz gewesen ist! Jetzt ist da, ich spüre es mit gnadenloser, nackter Gegenwärtigkeit, nur noch ein leeres, schwarzes Loch. Unwillkürlich muss ich an die unbeholfene Zeichnung der beiden Grazien denken. Und daneben nehme ich aber noch etwas wahr, etwas, das sich so ganz und gar unpassend anfühlt: Selbstmitleid! Selbstmitleid ist tatsächlich alles, was mir geblieben ist, und dieses Gefühl ist ungefähr so stimmig, wie wenn der einzig verbliebene Mensch in einem riesigen Universum ohne Gott sich in einem kleinen Taschenspiegel selbst betrachtet. Gleichzeitig verstehe ich, mit brutaler Klarheit, was das jetzt ultimativ bedeutet: Ich habe die Berechtigung zu leben verwirkt, aber nicht nur hier auf der Erde, sondern überall in allen Universen und dies für alle Zeit! Wie automatisch öffne ich meine Lippen zu meinem letzten Gebet: „Herr, lösche mich jetzt aus dem Buch der Lebenden!“ Ich bin jetzt einverstanden mit dem, was mir offensichtlich und folgerichtig die einzig mögliche Konsequenz erscheint. „Dein Wille geschehe. Amen.“

Da fühle ich eine kaum merkliche Veränderung in meiner Selbstwahrnehmung. Es fühlt sich an wie ein kleiner, anfangs kaum wahrnehmbarer lichter Punkt, da, wo vor Sekunden nur noch der schwarze Abgrund meiner Herzenshöhle war. Meine ganze konzentrierte Aufmerksamkeit ist jetzt nur noch auf diese Stelle hinter meiner linken Brust gerichtet. Und dieser Punkt wächst und wird größer und größer, dehnt sich immer mehr aus und fängt an zu strahlen, bis da schließlich ein warmer, lebendiger Ball ist, der jetzt wie eine kleine innere Sonne leuchtet. Ich verstehe gleichzeitig, dass Gott mir gerade ein ganz neues Herz geschenkt hat, und unwillkürlich habe ich meine beiden Hände jetzt, gleichzeitig schützend und fühlend, über meine linke Brust gelegt, wie um mich so noch einmal zu vergewissern, ob ich das jetzt wirklich erlebe. Ja, das ist jetzt nicht mehr mein Herz, was da in meiner Brust schlägt, es ist Gottes Herz! Tiefe Dankbarkeit und eine unaussprechliche Erleichterung überfluten von innen mein ganzes Wesen. Etwas zieht meine Aufmerksamkeit nach oben über die dunkle Silhouette der Bäume hinweg, wo meine Augen jetzt in einen wolkenlosen silbrig-blauen Abendhimmel schauen, an dem die ersten matten Sterne funkeln. Und da erkenne ich jetzt schauend im Raum die gleiche Kraft, aus der mein lebendiges Herz besteht, nicht nur in den so wohlig freundlich blickenden Sternen, sondern auch in den weiten Stellen dazwischen. Ja, ganz ohne Zweifel, alles, ja auch da, wo eigentlich nur Leere sein sollte, ist von dieser unermesslich kostbaren Kraft durchwebt. Wir sind umgeben davon und förmlich wie in Watte gepackt, und es gibt nichts, wo sie nicht ist. Und jetzt vermag ich auch den Klang dieser kosmischen Schwingung zu hören, es ist ein feiner heller glockenähnlicher Ton, der ohne Unterlass erklingt und der der akustische Ausdruck dafür ist, was ich immer wieder einmal gelesen habe, aber nie wirklich verstanden: Die ganze Welt ist beseelt – Nada Brahma!

Leider kann ich dieses überwältigende Dankbarkeitsgefühl nur kurz genießen, denn jetzt, wo ich diesen kostbarsten Schatz des ganzen Universums in seinem Wert erkannt habe, kommt auch wieder die Angst zurück. Ich weiß jetzt auch, wie gefährdet dieses schwache Herz ist. Wolfi, den ich die gesamten letzten Stunden meiner Agonie völlig ausgeblendet hatte, ist plötzlich wieder als Teil meiner Realität präsent. Langsam erst muss ich mir die kausalen Zusammenhänge herleiten und hangle mich erinnernd zurück bis an den Moment des Sündenfalles, der Übergabe dieser winzig kleinen, unscheinbaren lila Pille: „Du wirst dich wundern!“ klingt es noch einmal in mir nach. Ich schaue mich unsicher um. Weit und breit kein Mensch zu sehen, nur leises Rascheln und hin und wieder ein entferntes Knacken, was ich aber der Nähe von wilden Tieren zuordne. Inzwischen ist es noch dunkler geworden und die Baumwipfel zeichnen sich wie schwarze Silhouetten am klaren Himmel, wie indifferente Wächter, ab. Wieder muss ich mich fast zwingen, um den kausalen Realitätsabgleich zwischen meinem inneren Empfinden und der äußeren faktischen Wirklichkeit herzustellen.

Ist Wolfi immer noch eine Gefahr für meine Seele – noch bin ich ja in Berlin nur ein paar Schritte von seiner Räuberhöhle entfernt? Mit einem erneuten Griff an meine Brust versichere ich mir, dass es, das große Es, noch da ist, und auch der heimelige Glanz der jetzt in immer größerer Zahl aufleuchtenden Sterne hat eine kurzzeitig beruhigende Wirkung auf mich. Aber die Angst und Unsicherheit überwiegen. Was soll ich jetzt machen, wohin gehen? Wie in Trance und einem geheimen, fast archetypischen Zwang folgend beuge ich mich hinunter und ziehe meine Schuhe und Socken aus. Auf nackten Füßen gehe ich weiter, ohne zu wissen, wohin sie mich tragen werden. Kaum spüre ich dabei den kalten Schnee unter meinen Sohlen, mein eigener Körper ist mir wie fremd, wie etwas außerhalb von mir. Im Halbdunkel registriere ich, dass ich nach einiger Zeit von einem schmäleren wieder auf einen etwas breiteren Weg gelange, die Richtung entscheide ich intuitiv. Immer noch herrscht in meinem Inneren das seltsame Gemisch aus lauernder Ängstlichkeit und unendlicher Erleichterung. Plötzlich bemerke ich in mir ein neues Empfinden, so als würde eine Kraft mich ziehen oder, besser noch, schieben. Ja, etwas schiebt mich sanft und doch bestimmt vor sich her. Merkwürdigerweise macht mir dieses neue Empfinden überhaupt keine Angst, im Gegenteil, ich merke, dass ich mich ihm mehr und mehr überlassen kann. Als ich nach einiger Zeit an eine T-Kreuzung komme, spüre ich ganz deutlich, wie es mich rechts herum zieht. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass jetzt auch meine Unsicherheit und Angst fast völlig verschwunden sind. Mechanisch gehe ich jetzt weiter und komme nach einigen hundert Metern erneut an eine, diesmal etwas größere, Wegkreuzung. Ich bleibe stehen und merke, wie mein Körper sich zurückmeldet. Schmerz! Die eisige Kälte zieht mir jetzt fast wie ein heftiger Stromschlag in meine Füße und erinnert mich daran, dass meine Situation immer noch so unsicher ist, dass ich immer noch ohne Halt bin, wie ein Blatt im Herbststurm. Im selben Moment sehe ich ein kleines rotes Licht aus der gleichförmigen Dunkelheit leuchten. Ich gehe wie mechanisch darauf zu, während mein Hirn die ganze Zeit versucht, es einem mir bekannten materiellen Objekt zuzuordnen, ohne aber zu einem Ergebnis zu kommen. Näherkommend nehme ich jetzt eine stämmige schwarze Silhouette wahr, die eindeutig kein Baum oder Strauch sein kann. Erst kurz davor, fast schon in Tastnähe, erkenne ich das Objekt: Es ist tatsächlich eine Notrufsäule der Feuerwehr, und das rote Licht ist das Kontrolllämpchen, dass der Apparat funktionsfähig und auf Standby ist. Mann, so ein Glück, hier mitten im tiefsten Wald, schießt es mir durch den Kopf, bevor mein rationaler Verstand mich nüchtern korrigiert, dass dies lediglich der Charlottenburger Schlosspark ist und eine Notrufsäule inmitten von Berlin ja durchaus nichts Außergewöhnliches. Ohne zu zögern drücke ich intuitiv den Hebel herunter, was gleichzeitig das rote Licht in ein grünes verwandelt. „Ja bitte?“ tönt es mir fast im gleichen Moment scheppernd entgegen. „Ja, hallo, äh, Schäfer mein Name, ich bin hier im Charlottenburger Park und hab mich verlaufen, ich weiß nicht, wo ich bin, können Sie mir helfen? Ich bin barfuß.“ Zu meiner Überraschung kommt mir eine geschäftlich klingende Stimme nach einem kurzen Moment wie ganz selbstverständlich entgegen. „Bleiben Sie da stehen, wo Sie jetzt sind, es kommt ein Wagen vorbei.“ Klack. Ich bin verdutzt, weil man es irgendwie gewohnt ist, sich sonst immer erklären zu müssen. Wie heißen Sie, sind Sie allein, in welcher Krankenkasse sind Sie, wo genau ist Ihr Standort? Zum erstenmal seit einer scheinbaren Ewigkeit fühle ich, wie sich etwas in mir ganz von tief innen entspannt. Ich habe mein Herz wieder, vielleicht sogar ein besseres als vorher, wer weiß, die Feuerwehr ist auf dem Weg und Wolfi hat keine Macht mehr über mich. Nur meine Füße schmerzen jetzt heftigst, aber was ist das schon gegen das alles überragende Gefühl der Erleichterung für meine wundersame Rettung.

Erst jetzt fällt mir auf, dass sich mein Rücken so verdächtig leicht anfühlt. Mein Rucksack ist weg, muss mir unterwegs abhanden gekommen sein – was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Inzwischen ist es vollständig dunkel geworden und ich schaue noch einmal zu dem Stück Himmel über mir hinauf, das die Bäume freigeben. Sterne über Sterne, so weit mein Auge reicht, mit dem Sternbild des Orion in der Mitte, exakt wie eine geometrische Zeichnung auf allen Seiten abgegrenzt von den Baumkronen am Rand der Lichtung. Ich erinnere mich, dass ich auch als Kind so den Sternenhimmel gesehen habe, zwar einerseits schon in Ehrfurcht vor der nur zu erahnenden unendlichen Weite, aber gleichzeitig das Firmamentgefunkel wie eine beruhigende Decke empfindend, welche die ganze Welt schützend umhüllt.

In der Ferne höre ich jetzt ein Motorbrummen, das langsam näher kommt, und da tauchen auch schon zwei Scheinwerfer zwischen den Bäumen auf, die es offensichtlich auf mich abgesehen haben. Kurz bevor sie mich erreicht haben, wird das Licht so grell, dass ich meine Hände schützend vor meine Augen halten muss. Da sehe ich wieder den blinden Fleck in meinem inneren Nachbild, den ich wohl jetzt als Erinnerung an eine unheilvolle Begegnung im Berlin des Jahres 1976 als Erinnerung für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen werde. Das Feuerwehrauto, das sich jetzt doch eher als roter Rettungssanitäter herausstellt, hält mit seiner Seitentüre unmittelbar neben mir. Ich sehe jetzt einen etwas untersetzten, nicht mehr ganz jungen Mann aus dem Auto springen und mit einer Taschenlampe in der Hand auf mich leuchten. Der Schein bleibt einige Zeit an meinen Füßen stehen. „Auweia, dat sieht ja jar nich jut aus. Aber dat hamwa gleich.“ Im hellen Licht sehe ich jetzt auch, dass meine Zehen nicht nur schmutzig, sondern auch von der Kälte bedrohlich dunkelviolett gefärbt sind. Er reißt sogleich dienstbeflissen die Heckklappe auf, zieht die Trage raus, und ehe ich mich’s versehe, bin ich auch schon darauf abgelegt und angeschnallt – und zwischendrin hat er auch noch, wie nebenbei, meine Füße mit einer weichen Decke einschmeichelnd und routiniert eingehüllt.

„Na, dann komma rinn in de jute Stube“, lächelt er mich zu meiner Überraschung freundlich und ganz ohne unterschwelligen erhobenen Zeigefingerton in seiner Stimme an, und zusammen mit seinem Kollegen schieben sie das aufgesammelte Bündel Elend in das geräumige Innere eines blitzsauberen Sankas. Schon haben beide wieder Platz auf den Vordersitzen genommen, das Licht über mir geht aus und der Wagen setzt sich wieder in Bewegung, mit dem verlorenen Sohn als Himmelsbeute im Gepäck. Das Ganze hat keine fünf Minuten gedauert! Das sanfte Vibrieren unter meinem Gesäß, Rücken und Kopf, zusammen mit dem beruhigenden Rütteln und Schaukeln des Wagens auf dem holprigen, mit Eis überzogenen Wanderweg und dem sonoren Brummen des Motors, gepaart mit den freundlichen Lichteffekten der Scheinwerfer in der Dunkelheit, begleiten im Außen das tiefe Durchatmen meiner Seele, die unendliche Erleichterung, mich wieder der menschlichen Spezies zugehörig fühlen zu dürfen. Dieses ganze Szenario gerinnt mir in diesem Moment wie zu meinem persönlichen Himmel auf Erden in einer kleinen Streichholzschachtel. Ich schließe meine Augen und fühle in diesem Moment eine überwältigende Dankbarkeit.

Dann ging alles sehr schnell. Nach nicht einmal zehn Minuten konnte ich durch das Fenster eine Krankenhauspforte erkennen. Die Heckklappe wurde wieder aufgerissen, meine Trage herausgezogen, und ich wurde von kräftigen Armen durch einen heimeligen Krankenhausflur in ein hellgraues Untersuchungszimmer getragen, wo zu meiner Überraschung bereits drei Männer in weißen Kitteln standen, so als hätten sie schon auf mich gewartet. Ich wurde auf eine bereitstehende Behandlungsliege umgelegt, und als sich dann drei Gesichter buchstäblich gleichzeitig über mich beugten, da kam für einen Moment meine Angst zurück, ich könnte mich ähnlich wie Mia Farrow in „Rosemary’s Baby“ in einer dunklen Verschwörung befinden, und spürte selbst, wie ich die Männer aus meinen weit aufgerissenen Augen wie ein gejagtes Tier misstrauisch anschaute. Derjenige von ihnen, welcher wohl auch der Oberarzt war, registrierte das und sagte darauf mit betont sanfter einfühlsamer Stimme: „Wir wollten doch nur mal schauen, wie es dem Herzchen geht.“ Hatte er tatsächlich gerade „Herzchen“ gesagt? Und schon hatte er ein Stethoskop aus der Tasche hervorgezogen, meinen Pullover hochgeschoben und horchte nun das ab, oder besser das, was davon äußerlich wahrzunehmen war und das nur kurze Augenblicke davor noch eine so überirdische Wandlung durchgemacht hatte, dass keine Worte hinreichen, um das Geschehen wirklich entsprechend beschreiben zu können.

Epilog

Was dann in der nächsten Woche, die ich Gast in diesem freundlichen Spital war (das sich bald als Krankenhaus der Adventisten herausstellte), noch geschah, daran fehlt mir jegliche Erinnerung, außer vielleicht, dass der Priester des Hauses, der mich am zweiten Tag an meinem Bett besuchte, sinnigerweise Herr Engel hieß. Meine Erinnerung tritt erst wieder ein, als ich bereits wieder in München war und an einem sonnigen Sonntag am Gartentor zu Aarons Häuschen stand. Ich hatte bereits mehrmals geläutet, aber nichts im Hause schien sich zu rühren. Die logische Vermutung lag auf der Hand, dass niemand zuhause war. Merkwürdigerweise hatte ich plötzlich das intuitive Gefühl, dass dies eine Vertrauensprüfung sei, und so läutete ich ein weiteres Mal und versuchte diesmal meinen ganzen Glauben zusammenzunehmen: Aaron, du bist da, das weiß ich doch! Nach einigen weiteren Augenblicken sah ich tatsächlich, wie sich hinter den Fenstern etwas bewegte. Eines davon öffnete sich schließlich langsam, und Aarons vertrautes, aber merkwürdig ausdrucksloses Gesicht erschien darin, mir mit einem leichten Nicken zu verstehen gebend, dass er mich erkannt hatte, bevor er sogleich das Fenster wieder schloss. Jetzt wartete ich wieder, und es erschien mir wie eine halbe Ewigkeit, bis langsam die total ausgebleichte Holztüre in Parterre aufgemacht wurde. Aaron kam heraus und ging jetzt langsam auf mich zu, seine Frau Helga im Schlepptau mit einigen Schritten Abstand. Am Gartentor angekommen schaute er mir ganz ernst in die Augen und sagte dann nur kurz: „Gut gemacht!“

„Wenn ein Engel nun einverleibt wird in diese Materie, so verliert er sein hohes Bewusstsein – und wenn er angenommen fällt in diese Materie, so hat ihn eben dieses Bewusstsein zu Fall gebracht und es hat ein Stück Hölle über ein kleines Stück Himmel gesiegt. Nur scheinbar! Denn wo diese Hölle über diesen Engel den Sieg davonträgt, da ist Meine Gnade bereit, ihn wieder herauszuführen, und durch ihn wird dann dieses Stück Hölle, das den Sieg nur scheinbar errungen hatte, wieder zurückgeführt. Und so muss alles der Erlösung in der Erbarmung dienen… So hat Meine Gnade im gefallenen Engel gesiegt und es ist (ihm) kein Haar gekrümmt worden ohne Meinen Willen.“

(Empfangen am 8. 6. 1972 durch G. J. L. im Lichtzentrum Bethanien)